Bildschirmfoto 2020 05 18 um 07.58.02DAS JÜDISCHE LOGBUCH  vom 15. Mai 2020

Yves Kugelmann

Basel, (Weltexpresso) - Es geht wieder los. Der Unlock öffnet Gesellschaft und Wirtschaft. Strassen füllen, Menschen begegnen sich. Allerdings bleibt das jüdische Leben weithin gegroundet. Keine Gottesdienste. Keine Veranstaltungen. Begrenzter Unterricht. Jüdische Gemeinden sind soziale Institutionen. Heimat für Familienverbände, Individuen, Praktizierende und alle anderen. Jüdische Gemeinden sind kulturelle Institutionen, Institutionen für jüdische Bildung und Erziehung. Jüdische Gemeinden sind solidarische Institutionen mit Fürsorgestellen, Seelsorge und Hilfeleistungen. Jüdische Gemeinden sind zum Teil öffentliche Körperschaften, erhalten Steuern und mitunter öffentliche Gelder. Sie sind Arbeitgeber und wirtschaftliche Einheiten. Sie sind keine Privatveranstaltung.

Mit der schrittweisen Öffnung der Gesellschaft beginnt die Debatte und die Aufarbeitung der letzten Wochen. Die Pandemie 2020 spiegelt die Real-Realitäten anders, beendet Entwicklungen der Vergangenheit und justiert Prioritäten, Grundleistungen oder den gesellschaftlichen Auftrag an Staat, Verwaltung, Institutionen neu. Während auch die jüdische Zivilgesellschaft sozusagen über Nacht die Herausforderungen des Moments beeindruckend angenommen, sich organisiert und der Situation gestellt hat, Hilfs-, Förder-, Solidaritäts- und viele Programme aus dem Boden gestampft hat, wird in den nächsten Wochen und Monaten bewertet, wie Politik und Institutionen reagiert haben.

Das gilt auch für jüdische internationale und nationale Organisationen. Jahrzehntelang haben diese Bekämpfung gegen Antisemitismus oder Sicherheitsanliegen als Priorität Nummer 1 im öffentlichen Raum eingebracht. Millionen sind in diese Bereiche und in verquerte Lobbyarbeit geflossen. Was wäre gewesen, wenn diese Gelder primär in Soziales, Bildung und Erziehung, Kultur, in Schulen, Familien- oder Altersbetreuung, also in reales Leben und tägliche Bedürfnisse geflossen wären?

Ein Blick auf Budgets von offiziellen und teils eben nicht so ganz transparenten Jahresrechnungen von Verbänden zeigt, dass Kultur oder Bildung bereits in Zahlen, aber nicht in Worten marginalisiert werden. Wie kommt es, dass jüdische Verbände mehr Geld für Kommunikationsberater, Lobbyisten und anderes statt für Sozialarbeiter, Kultur, Bildung, Erziehung oder Familienunterstützung ausgeben? Wie kommt es etwa in der Schweiz, dass die beiden Schwesterverbände Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund und der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen bis heute während der Pandemie zu keiner gemeinsamen Kommunikation gefunden haben und gemäss Informationen von tachles während der ganzen Pandemie keine gemeinsame Sitzung abgehalten haben? Wie kommt es, dass die jüdische politische Vertretung in Europa und der Schweiz nicht wie andere Lobbyverbände Kernanliegen an vorderster Front vorgebracht haben wie andere Religionsgemeinschaften? Die jüdische Agenda der letzten Jahrzehnte wird hoffentlich durch eine jüdische Agenda der Zukunft abgelöst mit Fokus auf Zukunft, Soziales, Kultur, Bildung und Erziehung. Jüdische Gemeinden sind keine Kampftruppen gegen Antisemitismus, sondern Hort für gelebtes jüdisches Leben. Sicherheitsanliegen sind keine Kür, sondern Pflicht. Kultur und Bildung sind kein Alibi, sondern die Raison d’Être. Einsatz gegen Antisemitismus, Verschwörungstheoretiker oder für Sicherheit können problemlos auf Platz Nummer vier und fünf anstehen. Viel Erfolg mit den neuen richtigen Prioritäten.

Foto:
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. Mai 2020
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM JüdischenMedien AG.