Drucken
Kategorie: Zeitgeschehen
israelrp online.deNach eineinhalb Jahren und drei Wahlen, die keine klare Mehrheiten ergaben, hat Binyamin Netanyahu am Sonntag in Jerusalem seine neue Regierung vorgestellt

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Die Vereidigung der 35. israelischen Regierung ging am Sonntagnachmittag über die Bühne. Doch israelische Medien sprachen bereits davor von diversen Themen, die möglicherweise bereits das Ende dieser Regierung einläuten würden. Premier Binyamin Netanyahu und sein präsumptiver Partner Benny Gantz von Blauweiß kamen der Sache jedoch zuvor und hatten mögliche Krisen umschrieben und potenzielle Lösungen und Massnahmen in ihre Koalitionsabkommen integriert, um zu verhindern, dass eben diese Themen die Existenz der neuen Regierung bedrohen.

Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass die nahestehenden, kursorisch detaillierten Pro-bleme diese neue Mega-Koalitionsregierung (36 Minister und 16 Vizeminister!) noch Wochen, wenn nicht Monate auf Trab halten werden. Verschiedentlich war schon am Wochenende zu hören gewesen, dass die Verschiebung der Vereidigungszeremonie von den Koalitionspartnern weder vorausgesehen noch verhindert worden sei. Das bezeichneten die genannten Kreise als das erste Versagen der beiden Partner in ihrem ersten Ernstfall-Test. Nachstehend ein paar Auszüge aus Warnungen davor, dass Likud und Blauweiß in eine allgemeine Krise schlittern könnten, wie «Haaretz» sie formuliert hat.

Eine allgemeine Krise könnte demnach ausbrechen, wenn der Oberste Gerichtshof befindet, dass Netanyahu nicht Vizepremier sein kann, wenn Gantz übernimmt. Zwar hatte das Gericht Netanyahu grünes Licht erteilt, trotz der gegen ihn vorliegenden Anklagen, Premierminister zu sein, liess sich jedoch nicht über die Situation in der Rotationsphase aus, wenn Netanyahu alternierender Premier werden sollte.


Koalitionsabkommen verpflichtet

Was die Annexion palästinensischer Gebiete in der Westbank angeht, ist unklar, ob die Koalition Netanyahus den Versuch überleben wird, eine Annexion in der Westbank durchzusetzen. Das würde Blauweiß nicht unterstützen. Doch das Koalitionsabkommen gestattet es Netanyahu, Kabinettminister von Blauweiss zu umgehen und die Entscheidung der Knesset vorzulegen. Dort dürfte der Premier mit einer Mehrheit rechnen. Das Koalitionsabkommen verpflichtet Netanyahu andererseits, den trumpschen Friedensplan zu ratifizieren, unter gleichzeitiger Berücksichtigung von Israels Sicherheits- und strategischen Interessen. Die Aufrechterhaltung dieser vagen Prinzipien wäre schwierig bei gleichzeitiger Förderung der Annexion. Somit würde die Gretchenfrage lauten: Beeinträchtigung des Friedens mit Ägypten und Jordanien und damit Verzicht auf den Schritt oder ein Zusammenbruch der Regierung?


Die Krise nach der Krise

Dann soll am 24. Mai der Prozess gegen Netanyahu beginnen. Verschiedene Blauweiß-Mitglieder, Gantz eingeschlossen, haben bereits ihr Wahlversprechen gebrochen, keiner Regierung unter Führung des Angeklagten beizutreten. Bei fortdauerndem Prozess wird es immer schwieriger sein, Netanyahu zu helfen, die Regierungsgeschäfte zu erledigen. Gantz wird entscheiden müssen, ob er im Falle einer Verurteilung Netanyahus durch das Bezirksgericht weiter mit ihm kooperieren wird oder kann, dies vor und nach der Eingabe einer Berufung. Das Gesetz gestattet Netanyahu immer noch, als Premierminister zu dienen. Nach der Vereidigung der Regierung muss innert 90 Tagen ein Zweijahresbudget gebildet werden. Ein bestimmter Teil entfällt dieses Mal auf die Behebung der direkten und indirekten Schäden durch die Corona-Krise. Zudem soll noch vor dem Ausbruch der zweiten Krisenrunde entsprechend ins Gesundheitsressort investiert werden. Ferner gibt es laut «Haaretz» ungeklärte Fragen hinsichtlich kontroverser Gesetzesvorlagen.


Erfolglose Diskussionen

Am Sonntag, wenige Stunden vor der Vereidigungszeremonie, war die Vergabe der Ministerposten noch nicht vollendet. Einigen altgedienten und erfahrenen Bisherigen drohte das politische Aus, weil sie nicht gewillt waren, sich Netanyahus Verteilungsschlüssel zu unterziehen, der nicht immer objektiv sachdienlichen Prinzipien gefolgt war. Einige Beispiele: Die Likud-Abgeordneten Avi Dichter (Ex-Shabak-Geheimdienstchef und Nummer 8 auf der Likud-Liste), Tzachi Hanegbi und Gideon Saar (Netanyahus Erzrivale) diskutierten am Samstagabend erfolglos die noch nicht vergebenen Portefeuilles mit Netanyahu. Hanegbi soll die Gespräche «wütend und enttäuscht» verlassen haben, und Gideon Saar wird dem Vernehmen nach keinen Ministerposten in der nächsten israelischen Regierung besetzen. Das Bildungsministerium geht an Yoav Gallant, Nir Barkat hat das Nachsehen. Energieminister Yuval Steinitz, der seit 1996 enger Vertrauter von Netanyahu war, hätte zuerst aufs Abstellgleis gestellt werden sollen, kann nun aufgrund eines Entscheids in allerletzter Stunde den Job weiterhin behalten. Auch Zeev Elkin kann das Umweltministerium, seinem Wunsch entsprechend, weiter bekleiden. Tzippi Hotovely wird, bis zu ihrem vermutlichen Abgang zum Botschafterposten in London, Siedlungsministerin. Heisst ihr Nachfolger etwa Tzachi Hanegbi? Rafi Peretz wurde für seine Desertion von Yamina zu Likud mit dem Ministerium für Jerusalem, nationales Erbe und nationale Infrastrukturprojekte belohnt und darüber hinaus noch mit dem Beobach-terstatus im Sicherheitskabinett (siehe Kasten). Diese Liste ist alles andere als vollständig. Dass die Verteilung der Portefeuilles wenige Stunden vor der Vereidigung nicht abgeschlossen war, zeugt für Netanyahus egozentrisches Vorgehen und die persönliche Missachtung qualifizierter, langjähriger Mitarbeiter. Nicht unbedingt ein vielversprechender Anfang für ein sehr kompliziertes Unterfangen.

Die Knessetabgeordneten machten an der Vereidigungszeremonie reichlich Gebrauch von ihrem Recht, verbal gegen Netanyahu und dann gegen Gantz sowie gegen Oppositionsführer Lapid zu Felde zu ziehen. Netanyahu steckte die Voten mit der Abgeklärtheit eines erfahrenen Seniors weg, Gantz versuchte hin und wieder zu reagieren, während Lapid vermutlich von der Richtigkeit seiner Ausführungen derart überzeugt war, dass er seine Kritik gar nicht richtig hörte. Leider nichts Neues unter der Sonne.

Foto:
© rp-online.de

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. Mai 2020