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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2020 05 25 um 06.59.07Als mir zum zweiten Mal das Leben geschenkt wurde

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Glaubt man der „Chronik des 20.Jahrhunderts“, dann ist am  24. Mai 1945 nichts Besonders  passiert. Für mich ist das Datum jedoch von außergewöhnlicher  Bedeutung. An jenem Tag wurde mir das Leben zum zweiten Mal geschenkt. Zum ersten Mal war das am 29. Juni 1927 geschehen, als meine Mutter mich  während einer totalen Sonnenfinsternis zur Welt brachte.

Bildschirmfoto 2020 05 25 um 06.50.19Am 24. Mai 1945 erkannte der Kommandant tschechischer „Partisanen“ in letzter Minute, dass es sich bei dem zu erschießenden jungen Wehrmachtssoldaten, den seine Leute soeben aufgegriffen hatten, um den Sohn eines deutschen Antifaschisten handelte. Er wies einen Gendarmerieposten an, mir eine  Bescheinigung für  freies Geleit auf dem letzten Stück meines langen Heimweges aus Krieg und Gefangenschaft auszustellen. Das Dokument trägt das Datum vom 24. Mai 1945. Die Vorgeschichte dazu liest sich so:

Wie lange ich zu gehen haben würde, wusste ich nicht. Der Krieg war zu Ende, und ich wollte nach Hause. Vor mir lagen etwa vier- bis fünfhundert Kilometer. Züge oder Busse gab es nicht. Ich musste den Weg zu Fuß zurücklegen. Dass der Zweite Weltkrieg zu Ende war, hatte ich vor ein paar Stunden von russischen Soldaten erfahren, denen ich am Morgen des 9. Mai 1945 am Stadtrand von Treuenbrietzen in die Arme gelaufen war. Es war nicht meine erste Begegnung mit der Roten Armee. Eine Woche zuvor war ich in Berlin als Funker der Wehrmacht in russische Gefangenschaft geraten, hatte aber nach drei Tagen während einer nächtlichen Rast in Trebbin fliehen können.

Fünf Tage und fünf Nächte versteckte ich mich im Wald, bis mich der Hunger wieder in die Nähe von Menschen trieb. Aus einem Haus stürmten sowjetische Soldaten auf mich zu.. Sie lachten und riefen immer wieder: »Wojna kaput, Wojna kaput.«, Krieg kaputt. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was sie mir sagen wollten. Die Wehrmacht hatte in der Nacht kapituliert. Ich fragte nach etwas Essbarem. Einer der Soldaten lief zurück und reichte mir ein Stück Brot und ein halb mit Zucker gefülltes Kochgeschirr. Eine seltsame Nähe verband mich in diesem Augenblick mit den fremden Soldaten. Waren sie nicht auch arme Schweine? Einer der Rotarmisten band mir einen Fetzen weißen Stoffs um den linken Oberarm und sagte: »Du nach Chause.«

Bildschirmfoto 2020 05 25 um 06.51.12Um künftig nicht schon von weitem als Landser erkannt zu werden, so nannte man die Soldaten damals, entledigte ich mich noch am selben Tag meiner Wehrmachtsjacke und streifte eine Windbluse über, die ich am Straßenrand in einem Haufen weggeworfener Kleidungsstücke entdeckt hatte. Als ich Stunden später, wie gewohnt, an die linke Brusttasche griff, zuckte ich zusammen. Dort steckten immer die Briefe vatermeines Vaters, die mich, wenn einmal alles vorbei war, als Sohn eines Hitlergegners ausweisen sollten. Ich hatte sie in der weggeworfenen Wehrmachtsjacke vergessen. Mit fliegendem Atem rannte ich zurück, aber inzwischen hatte jemand sämtliche Taschen geleert. Verzweifelt tastete ich den Stoff immer wieder ab und fand schließlich am unteren Rocksaum zwischen Futter und Stoff einen der Briefe, der durch ein Loch nach unten gerutscht sein musste.

In Kurzlipsdorf, einem kleinen Ort etwa zwanzig Kilometer südlich von Treuenbrietzen, klopfte ich am Abend an die erstbeste Tür und fragte nach einem Nachtlager. Ich wurde freundlich aufgenommen. Zum ersten Mal seit Wochen schlief ich in einem Bett. Am nächsten Morgen marschierte ich weiter. Da ich nichts besaß, womit ich mich hätte ausweisen können – mein Soldbuch hatte ich weggeworfen – mied ich größere Orte. Jeden Tag legte ich etwa dreißig Kilometer zurück. In der Nähe von Pirna brachte mich ein Mann mit seinem Ruderboot ans andere Ufer der Elbe. Deren Quelle war jetzt nicht mehr gar so weit weg. Dort im Riesengebirge lag auf der tschechischen Seite mein Zuhause.

Berichte von Landsern über Gräueltaten gegenüber Deutschen ignorierte ich. Was sollte mir schon passieren. Ich hatte ein gutes Gewissen, und mein Heimweh war groß. Auf Waldwegen überquerte ich bei Sebnitz die sächsisch-tschechische Grenze. Von Vrchlabi (Hohenelbe) aus rief ich meinen Vater in Trutnov (Trautenau) an und signalisierte ihm, dass ich in zwei Tagen daheim sein werde. In Hostinné (Arnau) bekam meine Zuversicht einen Dämpfer. Eine bewaffnete Zivilstreife hielt mich an. Die beiden Männer trugen Bildschirmfoto 2020 05 25 um 06.48.39Armbinden mit der Aufschrift SNB, Stráž Národné Bezpečnosti, auf Deutsch Wächter der nationalen Sicherheit. »Němec?« fragten sie, Deutscher? Ich nickte. Links und rechts von je einem Bewacher flankiert wurde ich in ein Gebäude gebracht, in dem uns Männer mit umgehängten Gewehren umringten »Wo habt ihr den denn geschnappt?« fragten sie. Ihrem Verhalten entnahm ich, dass sie es gewohnt waren, Leute wie mich in Empfang zu nehmen. Auch was weiter geschehen würde, schien festzustehen. Ich sollte erschossen werden, es ging nur noch darum, wer es macht. Anscheinend dachten die Männer, dass ich sie nicht verstehe, aber ich hatte jedes Wort verstanden. Lähmendes Entsetzen befiel mich. Die Beine wurden mir schwer wie Blei und mein Herz hämmerte wild gegen die Rippen. Die Auflehnung gegen das blinde Wüten des Schicksals schüttelte mich wie ein Krampf. Könnte ich jetzt doch schlafen, dachte ich immer wieder, nur noch schlafen, ich bin so müde.

Mit einem Mal wurde es still. Die Anwesenden traten zur Seite und salutierten. Ein Mann in hellem Trenchcoat, den sie mit »Pane Bildschirmfoto 2020 05 25 um 06.49.05velitele«, Herr Kommandant, anredeten, fragte mich nach meinem Namen und meinem Geburtsort. Ich sei ein Vaterlandsverräter, sagte er. Niemals hätte ich als tschechischer Staatsbürger zur Wehrmacht gehen dürfen, hielt er mir vor. Einwände wischte er beiseite. An den Brief meines Vaters dachte ich nicht. »Komm mit«, sagte der Mann im hellen Staubmantel und zog mich Richtung Ausgang. Er will dich jetzt erschießen, ging es mir durch den Kopf. In einer Polizeiwache auf der anderen Straßenseite wurde ich nach Waffen durchsucht. Anschließend tastete der Mann im Trenchcoat meinen Oberkörper selbst noch einmal ab und zog mit spitzen Fingern den Brief meines Vaters aus meiner Brusttasche.

Ohne den Blick von mir zu wenden, machte er ein paar Schritte rückwärts und faltete das mit Maschine beschriebene zerknitterte DIN A 5 Blatt auseinander. Laut las er dann vor, was mein Vater geschrieben hatte. »Soll denn unsere Jugend völlig verbluten? Wann wird das Volk endlich von der Kriegsfurie erlöst?«  Mit ernstem Gesicht trat der Mann, in dessen Hand mein Schicksal ganz offensichtlich lag, vor mich hin. »Dieser Brief hat dir das Leben gerettet«, sagte er gepresst. Und an die Polizisten gewandt: »Stellt ihm einen Passierschein aus.« Dann drehte er sich um und verließ grußlos den Raum. Ich konnte gehen. Auf der Straße löste sich meine Anspannung  und Tränen schossen mir in die Augen. Mechanisch griff ich an die linke Brusttasche, in der neben dem Brief meines Vaters der rettende Passierschein knisterte.


Fotos: © privat
Der Brief des Vaters (Ausschnitt)
Der Sohn in Wehrmachtsuniform
Der Brief des Vaters
Tschechische Bescheinigung
Deutsche Übersetzung

Info:
Der vollständige Briefwechsel aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zwischen unserem Autor und seinem Vater ist nachzulesen in dem Buch »Im Wirrwarr der Meinungen«, das Conrad Taler unter seinem bürgerlichen Namen Kurt Nelhiebel veröffentlicht hat (Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2013).