Schauspiel Frankfurt ZuschauerraumDas reale Trauerspiel um die Frankfurter Bühnen

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Erneut werden sie alles zerreden. Kulturdezernentin Ina Hartwig, Schauspielintendant Anselm Weber und der Stadtplaner Torsten Becker, der keine Erfahrungen im Theaterbau besitzt.

Nämlich auf der angekündigten Podiumsdiskussion des Kulturdezernats über die Zukunft der Frankfurter Bühnen am 10. Juni. Wie zu erwarten, ist keiner jener Kritiker dazu gebeten worden, die vor wenigen Wochen in einer Petition für den Erhalt der gegenwärtigen Anlage bei technischer Grundsanierung eingetreten waren. Eine Auseinandersetzung über die Anforderungen an ein modernes Theater, dessen Hülle das Gebäude ist, dessen Wesen aber das Programm und seine Umsetzung sind, wurde in Frankfurt seit der Ära Reese nicht mehr geführt. Stattdessen melden sich unentwegt politische Karrieristen zu Wort, die nichts zu sagen haben. Symptomatisch für diese groteske Situation ist die Stellung des Baudezernenten, der innerhalb des Magistrats allem Anschein nach den Ton angibt. Obwohl ihm gemäß internem Geschäftsverteilungsplan bei der Kultur lediglich die Rolle eines Auftragnehmers zusteht. Der marode Zustand vieler Frankfurter Schulen, für den er verantwortlich ist, illustriert das zu erwartende Chaos, wenn am Willy-Brandt-Platz die Planierraupen ein Frankfurter Kulturdenkmal samt seiner wechselvollen Geschichte zerstört haben.

Selbst die längst bekannten Vorbehalte des Denkmalschutzamtes wegen des schützenswerten Foyers samt goldenem Wolkenhimmel, die unlängst wieder von den Medien aufgegriffen wurden, veranlassten Kulturdezernentin Ina Hartwig nicht zur Überprüfung alter und neuer Fakten. Verwegen, sogar tollkühn, wischt sie sämtliche Bedenken vom Tisch. Darunter auch die seriösen Einschätzungen von Fachleuten über den tatsächlichen Sanierungsbedarf der Theaterdoppelanlage und deren Kosten. Nach ihrer Meinung ist der Meinungsbildungsprozess des Magistrats abgeschlossen und der Beschlusses der Stadtverordnetenversammlung für einen Neubau unumstößlich. Wobei beide wegen der Corona-bedingten prekären Finanzsituation der Stadt Frankfurt mutmaßlich nicht das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Äußerungen von Oberbürgermeister Peter Feldmann und Kämmerer Uwe Becker lassen sich dahingehend interpretieren.

Die Kosten für eine „verbesserte“ Sanierung inklusive Abbruch des Hauptgebäudes, Bau eines Produktionszentrums und Anmietung sowie Herrichtung eines Interimsdomizils plus möglicher Risikozuschläge betragen laut "Stabsstelle Zukunft der Bühnen" 918,3 Millionen Euro. Eine Basissanierung schlüge mit 826,3 Millionen zu Buche. Der Neubau der Doppelanlage hingegen würde "nur“ 874,9 Millionen kosten. Die Kosten für zwei getrennte Neubauten bewegten sich zwischen 809,3 und 859,1 Millionen Euro. So lauten die im November 2019 veröffentlichten Zahlen. Auf dieser Grundlage entschied sich die Stadtverordnetenversammlung für einen Neubau, ohne dessen Standort verbindlich festzulegen.

Der frühere Leiter des Hochbauamts, Roland Burgardt, schätzte den Finanzbedarf für eine Grundsanierung hingegen lediglich auf 200 Millionen ein, der ehemalige Baudezernent Hans–Erhard Haverkamp vor zwei Jahren sogar nur auf knapp 180 Millionen. Wobei diese Beträge für eine vollständig neue Haustechnik (Klima, Heizung, Strom- und Wasserleitungen) sowie eine wärmegedämmte Verglasung aufzuwenden wären. Selbst bei zusätzlichen, aber nicht notwendigen, Baumaßnahmen fiele allenfalls die Hälfte der zuletzt prognostizierten Aufwendungen an. So äußerte sich unlängst Roland Burgardt in einem Gespräch mit der „Frankfurter Rundschau“. Diese Fachleute gehen anscheinend davon aus, dass die Bausubstanz weitgehend stabil ist, ebenso die Statik des Gebäudes.

Es soll in der Mainmetropole große Bauten geben, die ebenfalls aus den 1960er Jahren stammen und die sich keineswegs in einem ruinösen Zustand befinden. Mutmaßlich fand dort eine laufende Instandhaltung statt (letzteres ist anscheinend ein Fremdwort für die Parteien der schwarz-rot-grünen Koalition).

Näheres könnten die interessierten Bürger erfahren, falls die Bauzustandsanalysen sowie die dabei als notwendig erachteten Sanierungsmaßnahmen (Beschreibung gemäß VOB - Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen) veröffentlicht würden. Doch die scheinen ein Staatsgeheimnis zu sein. Zumindest liegt eine solche Transparenz nicht im Interesse von Immobilienentwicklern, Architekten und Bauunternehmen, die sich von einem Neubau der Theateranlage und einer neuen Verwendung des bisherigen Standorts das große Geld versprechen.

Neben der seit Jahren unterlassenen Wartung und Sanierung des Gebäudekomplexes ist den Verantwortlichen auch der fehlende Blick auf das Eigentliche anzulasten. Kenner der Frankfurter Theaterszene registrieren seit langem, dass die Zahl der Besucher kaum wächst, dass es lediglich Veränderungen innerhalb der Gruppen gibt. Wer häufig die Vorstellungen aufsucht, erwirbt ein Abonnent oder eine Schauspiel-Card, um in den Genuss von Vergünstigungen zu kommen. Der Vergleich der Spielzeiten 2016/17 und 2017/18 weist bei den vom Schauspiel ausgegebenen Karten ein Minus von 19.955 auf (182.974 gegenüber 163.019). Für 2018/19 fand ich noch keine Zahlen veröffentlicht. Das deutet auf ein Akzeptanzproblem hin, das mutmaßlich nicht auf den baulichen Zustand der Spielstätten zurückzuführen ist.

Zudem sind die ausgegebenen Karten nicht identisch mit den einzelnen Personen, die das Schauspiel aufgesucht haben. Mindestens zwei Drittel der Eintrittskarten entfallen auf Abonnenten und Card-Inhaber. Angesichts der Anzahl von Erstaufführungen ist davon auszugehen, dass diese Kunden mindestens fünfzehnmal pro Spielzeit ins Theater gehen. Und beim verbleibenden Drittel ist eine durchschnittliche Untergrenze von 5 Besuchen anzusetzen.

Diese, auch auf persönlichen Stichproben basierende, Durchschnittsrechnung ergibt ca. 18.000 Einzelpersonen pro Spielzeit. Das sind ca. 2,5 Prozent der Frankfurter Bevölkerung. Bei der Oper werden sich die Zahlen in ähnlichen Verhältnissen bewegen. Eine Ausgabe von ca. einer Milliarde Euro Steuergeld für fünf Prozent der Frankfurter Bevölkerung erscheint als unangemessen hoch. Zumal der Elan der ersten Jahre von Oliver Reeses Intendanz verpufft ist. Es werden kaum noch nennenswerte Akzente gesetzt. Das Schauspiel scheint für weite Teile der Bevölkerung nicht mehr attraktiv zu sein. Und irgendwie verblasst auch der Glanz der mehrfach ausgezeichneten Oper. Frankfurt ist die kulturelle Ausstrahlung verloren gegangen. Und das könnte weniger an den Intendanten der Häuser liegen als an der politischen Führung.

Wie bereits angedeutet, werden wegen der in Insolvenzgefahr befindlichen Lufthansa und des ebenfalls stark angeschlagenen Frankfurter Flughafens sowie krisenhafter Entwicklungen bei Finanzhäusern (Deutsche Bank und andere) die Einnahmen der Stadt über die nächsten Jahre hinweg deutlich geringer sein als bislang. Damit erledigen sich auch großspurige Theaterträume. Stattdessen ist Reparatur angesagt, und zwar unverzüglich.

Foto:
Zuschauerraum des Schauspielhauses Frankfurt am Main
© MRG