Traume AlbtraumeGegen eine Theologie des Abstrusen

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Meine Träume spielen sich im Darknet der Phantasie ab. Und Gott begegne ich ständig; denn der bin ich selbst.

Zu diesem Bekenntnis hat mich Thorsten Latzels „theologischer Impuls Nr. 63“ angeregt. Er stellte den WELTEXPRESSO-Lesern drei Fragen: Wovon träumen Sie nachts, gerade in der Corona-Zeit? Ist Ihnen dabei schon einmal Gott begegnet? Und welches sind die „Traumorte“ Ihres Lebens?

An die allermeisten Träume kann ich mich nicht erinnern, selbst dann nicht, wenn ich unmittelbar danach aufwache oder sogar vor Schreck wach werde. Einige wenige Motive hingegen tauchen in unterschiedlichen Variationen seit Jahrzehnten immer wieder auf. Da ist Erika M., eine außergewöhnlich hübsche Mitschülerin aus der Grundschule. Leider konnte ich bei ihr nicht landen, nicht richtig jedenfalls. Möglicherweise verfolgt sie mich deshalb seit 60 Jahren. Liegt neben mir, fordert mich dazu auf, mit ihr in diversen Stellungen zu schlafen. Doch noch ehe das Abenteuer beginnt, verschwindet sie wieder.

Ein anderer treuer Begleiter meiner Träume ist jener Bahnhof der Deutschen Bundesbahn ohne Namen, von dessen Bahnsteig man direkt in ein Schiff umsteigen kann. Manchmal erhält der Zug keine Einfahrt und das Schiff legt ohne mich ab. Hin und wieder ist der Zug pünktlich, aber das Schiff kommt nicht. Geklappt hat die Verbindung noch nie.

Richtige Angst hat mir zwischen meinem 16. und 24. Lebensjahr ein Krankenhauszimmer bereitet, das ich aus unbekannten Gründen inspizieren sollte. Als ich die Tür öffnete, lag eine verhüllte Gestalt auf einer Bahre. Eine Pflegerin, die unvermittelt hinzugetreten war, rollte die Leiche hinaus. Und ich floh in panischer Furcht irgendwo hin.
Seit die Corona-Pandemie ausgebrochen ist, träume ich nicht anders als zuvor. Also ohne mich an die fiktiven Ereignisse erinnern zu können. Einmal, so mein Eindruck, stand ich nach langer Pause mal wieder auf dem Bahnsteig mit Schiffsverbindung und konnte nicht weiterreisen. Gott ist mir jedoch noch nie begegnet. Aber ich weiß, warum.

Denn Gott ist mein Alter Ego, ist die Projektion meiner Vorstellungen von Mensch und Welt auf eine metaphysische Ebene. Ludwig Feuerbach hat das ausführlich beschrieben („Das Wesen des Christentums“). Auch David Friedrich Strauß in seinem Buch „Das Leben Jesu“. Jean Paul hat mir mit seiner „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ weiteres Material für meine frohe Botschaft („Evangelium“) gegeben. Ebenso spielt Karl Marx in meinem Meinungsbildungsprozess eine wichtige Rolle: „Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er seinen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine Wirklichkeit sucht und suchen muss.“ Und an anderer Stelle in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ heißt es: „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“

Die christlichen Theologen Rudolf Bultmann, Herbert Braun und Dietrich Bonhoeffer haben diesen Erkenntnisprozess auf ihre Weise problematisiert. Der erste behauptete in seinem Jesus-Buch von 1926 „dass wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nicht mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren. Was seit etwa anderthalb Jahrhunderten über das Leben Jesu, seine Persönlichkeit, seine innere Entwicklung und dergleichen geschrieben ist, ist - soweit es nicht kritische Untersuchungen sind - phantastisch und romanhaft.“
Für Braun ist die Existenz eines persönlichen Gottes nicht denkbar. Gott verbleibt lediglich als sprachliche Formel, mit der wir „das Woher unseres Umgetriebenseins“ benennen können.
Und Bonhoeffer träumte (!): „Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen — aber der Tag wird kommen —, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, daß sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend wie die Sprache Jesu, daß sich die Menschen über sie entsetzen ...“. Und an anderer Stelle: „So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)!“

Bedürfen wir der Träume als Einfallstor in eine andere Wirklichkeit, wie Thorsten Latzel meint? Gar als Eingangsstufe eines Gottesbeweises? Nein, die Wirklichkeit entspricht der Welt. Und „die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen“ (so der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein). Es steht uns frei, uns auf der Suche nach den Dimensionen dieser Wirklichkeit der Hilfsvokabel Gott zu bedienen, wenn wir meinen, eine axiomatische Formel benutzen zu sollen. Doch Vorsicht ist geboten. Der Hamburger Pastor Paul Schulz sprach 1976 von Gott als einer mathematischen Formel. Die Kirchenleitung leitete daraufhin ein Lehrbeanstandungsverfahren ein, das mit Schulz‘ Amtsenthebung endete. Vor diesem Hintergrund kann man wirklich Albträume haben – vor Corona und vor der Kirche.

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Träume – Albträume
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