Bildschirmfoto 2020 07 06 um 03.51.58IM GESPRÄCH: GRA-Präsident Pascal Pernet (r) mit Geschäftsführer Dominic Pugatsch. und tachles

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Gespräch mit dem Präsidenten Pascal Pernet und dem Geschäftsführer Dominic Pugatsch der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) über die Studie zur Wahrnehmung von Antisemitismus unter Schweizer Juden.

tachles: Für die Studie wurden Schweizer Jüdinnen und Juden nach ihrer Wahrnehmung von Antisemitismus befragt. Rund 400 haben den Fragebogen zu Ende beantwortet. Wieso dieser Ansatz?

Pascal Pernet: Bisher publizieren wir zu Antisemitismus ja den jährlichen Antisemitismusbericht, bei dem es um gemeldete Vorfälle geht. Gleichzeitig werden wir aber regelmässig danach gefragt, wie Antisemitismus von der jüdischen Bevölkerung wahrgenommen wird. Es machte deshalb Sinn, die Frage an potenziell Betroffene zu stellen, wie sie Antisemitismus in der Schweiz erleben. Darüber hinaus dient die Studie zu Vergleichszwecken mit der entsprechenden EU-weiten Befragung, welche vor zwei Jahren durchgeführt wurde.


Ihre Stiftung klärt auch gegen Rassismus auf. Weshalb hat man nicht auch Rassismus abgefragt, um beides in Relation setzen zu können?

Dominic Pugatsch: Das haben wir getan ...


... ja, nur bei Jüdinnen und Juden.

Pascal Pernet: Eine separate Studie dazu hätte den Rahmen gesprengt. Wir wollen aber künftig mehr solche Befragungen durchführen, um fundierte Aussagen machen zu können. In der aktuellen Rassismusdebatte hat die GRA engagiert Position bezogen und ist auch für viele Medien ein Ansprechpartner. Bei der vorliegenden Studie war aber die EU-Befragung und die Vergleichbarkeit der Empfindung von Antisemitismus der Jüdinnen und Juden in der Schweiz der Ausgangspunkt.


Dabei spielte die Selbstidentifikation und Sichtbarkeit der Jüdischkeit eine prominente Rolle. Weshalb?

Pascal Pernet: Das hat mit der Methodik von Dirk Baier, der die Studie leitete, zu tun. Eine Befürchtung dabei war, dass nicht jüdische Leute, die die Resultate verfälschen möchten, an der Studie teilnehmen würden. Deshalb wurden Fragen zur Identität verstärkt gestellt.

Dominic Pugatsch: Und es kann so auch nach Subgruppen unterschieden werden und damit der Einfluss der Sichtbarkeit festgestellt werden – was ein Vorteil ist.


Die Studie führt Hass und Antisemitismus als größte Sorge der Schweizer Juden an.

Pascal Pernet: Hass im Internet muss für uns ein grosses Thema bleiben, denn etwa 50 Prozent der jüdischen Bevölkerung betrachtet dies als Problem. Dann gibt es gemäss Umfrage auch ein Problem an Schulen, zu dem wir derzeit an einer Projektidee arbeiten. Und natürlich geht es uns generell um die Sensibilisierung der Menschen.


Überraschend ist in der Studie, dass der «klassische» Antisemitismus nach wie vor die größte Sorge der Juden ist. Der oft beschworene Antisemitismus unter Migranten oder bei Muslimen spielt kaum eine Rolle.

Dominic Pugatsch: Ja, wobei sich auch der klassische Antisemitismus in seiner Form den heutigen Gegebenheiten anpasst. Der alte Stammtisch beispielsweise hat sich immer mehr in die sozialen Medien und in die Kommentarspalten der Online-Medien verlagert. Diskriminierende Sprüche auf dem Pausenplatz wiederum verbreiten sich heute viel schneller über Klassen-Chats und WhatsApp-Gruppen. Wir weisen auf solche Phänomene und Entwicklungen in unserer Tätigkeit laufend hin.

Pascal Pernet: Wichtig ist letztlich, dass Antisemitismus nicht salonfähig wird. Damit hätten wir schon viel erreicht.


Bestätigt die Studie somit die bisherigen, langjährigen Aktivitäten der GRA, oder drängen sich zwingend Änderungen auf?

Pascal Pernet: Sie bestätigt unsere Wahrnehmung, dass hierzulande am meisten gegen den «klassischen», subtilen Antisemitismus angekämpft werden muss und dass wir vor allem im Bildungsbereich mehr tun müssen. Rechtsextremismus und moslemischer Anti-semitismus sind zum Glück in der Schweiz bislang keine Riesenprobleme!


Kann man sagen, dass die Öffentlichkeitsarbeit der GRA bei den Menschen mehrheitlich Verständnis für das Anliegen weckt?

Dominic Pugatsch: Ja, und auch die Studie zeigt, dass es sehr wichtig ist, dass wir uns auf die Mehrheitsgesellschaft als Zielgruppe fokussieren. Hier gilt es gezielte Aufklärungs- und Präventionsarbeit zu leisten.


Hat die Qualität der Kommunikation zum Thema Antisemitismus einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Juden in der Schweiz?

Pascal Pernet: Absolut, ja. Wir wissen nun, dass, wenn viele jüdische Sommergäste in Davos oder Arosa sind und die lokale Bevölkerung beginnt, sich negativ über sie zu äußern, dies 80 Prozent der befragten Juden als antisemitisch empfinden. Das geht aus der Studie klar hervor, und genau deshalb war es wichtig, sie zu machen: um eine fundierte Basis zu haben, um über solche Themen zu reden.


Die GRA fühlt sich also in ihrer eigenen Kommunikation bestätigt?

Dominic Pugatsch: Bestärkt, ja. Wir sind ein Watchdog, und dafür müssen wir auch hinstehen. Wie die Qualität in der Berichterstattung dann gemessen wird, ist den Leserinnen und Lesern überlassen. An uns ist es, die Argumente zu finden und überzeugende Öffentlichkeitsarbeit zu leisten.


Nun müssen die Resultate der Studie programmatisch umgesetzt werden. Was heisst das für die GRA konkret?

Pascal Pernet: Ein konkretes Projekt ist, dass wir an Schulen Antirassismusbeauftragte ausbilden wollen, die als Gleichaltrige unter den Schülern entsprechende Vorfälle aufnehmen und Lösungen finden. Das gibt es in anderen Ländern schon, und wir meinen, dass dies ein ganz konkreter Beitrag ist, den wir leisten können. Die Schulen sind stärker als erwartet von diesen Themen betroffen.

Dominic Pugatsch: Wir wollen ja gegen den Alltagsrassismus angehen, und das geschieht am besten über Multiplikatoren. Nicht jeder, der mal einen dummen Spruch macht, den jemand Jüdisches als diskriminierend empfindet, muss schon ein Antisemit sein. Oft ist es aber mangelnde Sensibilität gegenüber den Mitmenschen. Besonders nachhaltig wirken solche diskriminierenden Äusserungen auf die Betroffenen, wenn sie eben gerade subtil daherkommen, etwa in alltäglichen Situationen. Dagegen versuchen wir derzeit medial anzugehen.


Im Bereich Erziehung ist die GRA ja schon lange aktiv. Wäre das nicht eigentlich eine Domäne, bei der der Staat gefordert wäre?

Pascal Pernet: Man sollte nicht immer nach dem Staat rufen, aber wir stellen schon den Anspruch, dass die Schulen solche Projekte unterstützen. Bei der Umsetzung wird sich dann zeigen, ob dem so ist.

Dominic Pugatsch: Dazu kommt, dass solche Themen im Lehrplan 21 überhaupt Platz haben müssen. Wir hören oft, dass dafür gar keine Zeit mehr bleibe, die wir aber einfordern. Ethik-fragen, der Umgang miteinander, Sensibilisierung – das alles braucht eine gewisse Zeit.

Pascal Pernet: Wir wissen, dass Lehrpersonen teilweise den Zweiten Weltkrieg nur noch aufs Minimale beschränkt behandeln, weil sie dadurch kontroverse Diskussionen in den Klassen vermeiden wollen. Da stellen wir die Forderung, dass man das Thema gebührend ernst nimmt und sich dieser Diskussion auch stellt.

Dominic Pugatsch: Man kann sich natürlich fragen, inwiefern es sich dabei nicht um eine eigentliche Staatsaufgabe handelt. Es gibt auch die Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB), die Gelder sprechen kann. Schliesslich kosten nachhaltige Projekte eben, und da gibt es glücklicherweise grundsätzlich auch ein grosses Engagement der Zivilgesellschaft, von Familien, die uns seit vielen Jahren unterstützen. Da wäre es schon wünschenswert, dass man letztlich nicht noch um den Raum im Schulplan kämpfen müsste!


Eines der Hauptanliegen der GRA ist seit Langem die Antirassismus-Strafnorm. Können Sie den Stand der Dinge beurteilen?

Pascal Pernet: Wie die letzten Abstimmungsergebnisse im Februar dieses Jahres gezeigt haben, ist die Norm aktuell breit in der Bevölkerung abgestützt. Aufgrund der Umfrage ist aber auch klar, dass die Jüngeren nicht mehr so gut Bescheid wissen über die rechtliche Situation in der Schweiz. Daraus ergibt sich eine Aufgabe für die GRA. Die Jungen müssen wieder wissen, worum es bei diesem Gesetz geht, was es genau bedeutet.


Wie wirksam ist denn der Artikel 261bis StGB überhaupt?

Pascal Pernet: Der Strafartikel erzielt die gewünschte Wirkung und gleichzeitig stösst er an Grenzen. Aus der Studie geht beispielsweise hervor, dass viele diskriminierende Äusserungen nicht öffentlich gemacht werden und deshalb durch das Gesetz nicht abgedeckt sind. Das zentrale Problem ist also nicht das Strafgesetz, sondern die Sensibilität jedes Einzelnen.

Dominic Pugatsch: Man muss sich also fragen, ob die Menschenwürde noch besser geschützt werden müsste. Und offensichtlich melden dazu ja immer mehr Interessengruppen ihr Schutzinteresse an.


Das Internet ist ja größtenteils öffentlicher Raum, aber gemessen an den Zahlen greift das Gesetz dort nicht so richtig.

Pascal Pernet: In Härtefällen werden auch bei Verstössen im Internet Strafanzeigen gemacht, sei es durch uns, den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) oder andere. Aber das hilft nicht immer; es müsste schneller gehen. Deshalb appellieren wir an die Anbieter der Plattformen. Wobei es bedauerlich ist, dass es immer noch Anzeigen braucht, denn es geht um ein Offizialdelikt.


Können Sie diesbezüglich politisch etwas in Gang setzen?

Pascal Pernet: Wir hatten Anfang Jahr einen grossen Erfolg in der Ausweitung des Geltungsbereichs, aber die Debatte freie Meinungsäusserung versus Schutz vor Diskriminierung kommt natürlich immer wieder auf – und das ist gut so. Schliesslich ist die Meinungsäusserungsfreiheit in der Schweiz von hoher Bedeutung und eine Einschränkung braucht einen breiten gesellschaftlichen Konsens.

Dominic Pugatsch: Die Notwendigkeit, häufig selbst Anzeige zu erstatten, statt dass die Strafbehörden von sich aus tätig werden in öffentlich bekannten Fällen, das ist ein Thema, das wir zusammen mit unseren Partnern sicher wieder vermehrt aufnehmen werden.


Welche Resultate haben Sie in der Studie positiv oder negativ überrascht?

Pascal Pernet:
Erstaunt hat mich, dass es doch viele Leute gibt, die aus Befürchtungen, es könnte ihnen etwas zustoßen, ihr Verhalten ändern – sie machen rund einen Drittel der Befragten aus. Auf die gesamte jüdische Bevölkerung gerechnet sind das über 6000 Personen, eine sehr hohe Zahl. Und dass Schulen und Arbeitsplatz jene Orte sind, an denen man am meisten Diskriminierung erfährt. Subtiler Alltagsrassismus ist offensichtlich das Hauptproblem hierzulande!

Dominic Pugatsch: Wir sehen auch, dass über 50 Prozent Antisemitismus und sogar 60 Prozent Rassismus als Problem betrachten – und zwar im Alltag. Sei es bei der Stellensuche, am Arbeitsplatz, in der Schule. Das finde ich schon extrem. Und nur etwa die Hälfte ist damit zufrieden, wie die Behörden damit umgehen. Da wäre also etwas mehr Courage und Verständnis im Umgang mit den Mitmenschen durchaus wünschenswert.

Foto:
GRA-Präsident Pascal Pernet (r) mit Geschäftsführer Dominic Pugatsch.
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 3. Juli 2020