Bildschirmfoto 2020 08 28 um 23.58.31Machtpolitik bestimmt Israels politischen Alltag mit abenteuerlichen Strategiespielen – doch wohin soll das führen?

Richard C. Schneider

Tel Aviv (Weltexpresso) - Buchstäblich in letzter Minute einigte sich die israelische Koalition darauf, zusammenzubleiben, Premier Netanyahu wollte es einmal mehr darauf ankommen lassen und Neuwahlen provozieren. Der Grund ist simpel: Entgegen der Abmachung im Koalitionsvertrag war Binyamin Netanyahu nicht bereit, ein Budget für zwei Jahre, sondern nur für ein Jahr zu verabschieden. Und da im Koalitionsvertrag steht, dass bei Auflösung der Regierung automatisch Gantz Interimspremier bis zu den nächsten Wahlen würde, musste Netanyahu einen Ausweg finden. Und er fand ihn: Denn im Falle einer Nichtverabschiedung eines Budgets müssen per Gesetz automatisch Neuwahlen stattfinden. Bis dahin aber bliebe der amtierende Premier auch Interimspremier, also Netanyahu selbst.

Jedem in Israel war von Anfang an klar, dass Netanyahu alles versuchen würde, das Abkommen mit Benny Gantz, der im November 2021 die Amtsgeschäfte als Premier von Netanyahu übernehmen soll, zu sabotieren. Dass Gantz nie und nimmer Premier wird, das war jedem in Israel klar. Nur dem früheren Generalstabschef und naiven Novizen in der Politik offensichtlich nicht.


Bennett ist schlauer als Gantz

Dass Netanyahu nun einem Kompromiss zugestimmt hat und die Entscheidung über das Budget um 100 Tage verschoben ist, bedeutet gar nichts. Netanyahu hat für den Augenblick aus einem einzigen Grund keine Neuwahlen gewollt: weil er verstanden hat, dass er laut Umfragen nicht automatischen einen Sieg mit 61 Mandaten in der Tasche hat. Im Gegenteil. Sein Erzfeind Naftali Bennett von der rechtsradikalen Yamina-Partei, die derzeit mit fünf Mandaten in der Opposition sitzt, käme laut Umfragen derzeit auf 16 Mandate. Netanyahu müsste also möglicherweise eine Koalition mit ihm eingehen. Und da Bennett ein wenig schlauer ist als Gantz, würde er auch eine Rotation als Premier von Netanyahu einfordern. Mit dem Unterschied, dass er darauf bestehen würde, als erster Premier zu sein, weil er spätestens jetzt weiss, dass Netanyahu ihn sonst nie an die Macht kommen lassen würde.


Prozess ab Januar 2021

Der Premier taktiert also. Er will Bennetts Aufstieg möglicherweise durch massive Versprechen für dessen Klientel stoppen, seinen Prozess irgendwie verhindern, die Gesetze umschreiben und sich selbst Immunität garantieren. Und wer weiss? Vielleicht sehen in 100 Tagen die Umfragen für ihn besser aus. Dann kann er die Koalition immer noch platzen lassen. Weil das Budget erneut nicht verabschiedet wird. Ab Januar 2021 wird nämlich sein Prozess wegen Korruption in drei Fällen routinemässig laufen. Dreimal die Woche. Und der Angeklagte muss jedes Mal erscheinen. Für neuen Streit zwischen Netanyahu und Gantz ist also gesorgt. Schon jetzt geht es um die Frage, wie wichtige Positionen, etwa des neuen Polizeichefs und des neuen Generalstaatsanwalts, besetzt werden sollen. Netanyahu will natürlich irgendwelche schwächliche Adlaten einsetzen, um so aus seiner juristischen Bredouille zu kommen. Gantz will das verhindern. Aber wird er das können? Der aktuelle Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit hat klargemacht, dass es hier einen Interessenkonflikt gibt und Netanyahu bei der Auswahl der neuen Amtsinhaber nicht mitreden dürfe. Und klar, er erklärte sofort, er würde das nie tun. Doch jeder im Land weiss, dass auch das wohl die Unwahrheit ist. Wie so vieles, was der angeschlagene und inzwischen fast schon panisch wirkende Premier sagt und tut.


Vor den Feiertagen in die Quarantäne?

Um seine orthodoxen Koalitionspartner bei der Stange zu halten, die inzwischen auch schon kritischer geworden sind, ist er sogar bereit, die Bratzlawer Chassidim vor Rosch Haschana in die Ukraine ziehen zu lassen. Zehntausende versammeln sich dort jedes Jahr in Uman, am Grabe des Rabbi Nachman. Sie beten, tanzen und feiern dort zusammen. Auf engstem Raum. Der Verantwortliche für die Koordination der Corona-Bekämpfung in Israel, Ronni Gamzu, will dies unbedingt verhindern und hat der ukrainischen Regierung diesbezüglich einen Brief geschrieben. Angeblich soll auch Netanyahu sich dementsprechend gegenüber der Führung in Kiew geäussert haben, so heisst es zumindest von dort. Doch Netanyahu hat dies sofort dementiert. Die Bratzlawer werden also reisen, falls die Ukraine ihre Grenzen nicht dichtmacht. Und dann kämen Tausende zurück. Viele von ihnen möglicherweise infiziert. In die Quarantäne werden sie kaum gehen, denn dann ist ja gleich Jom Kippur und Sukkot. Die Seuche wird sich weiter ausbreiten, die Zeche werden die säkularen Israelis bezahlen. Ronni Gamzu hat inzwischen gedroht, seinen Job hinzuwerfen. Doch das wird Netanyahu nicht interessieren. Dann sucht er halt jemanden anderes. Es spielt alles keine Rolle mehr. Es geht schon längst nicht mehr um das Land, sondern nur noch um den Machterhalt.

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Binyamin Netanyahu wären Neuwahlen gelegen gekommen, auf den Schultern des israelischen Volkes, dessen Antwort nur wäre: «Israel schämt sich», wie auf den Plakaten einer Demonstration vom Frühling zu...

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 28. August 2020