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Kategorie: Zeitgeschehen
iu1Der Überwachungskapitalismus sollte mehr kulturindustriell als persönlichkeitsrechtlich in die Betrachtung genommen werden

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Ich habe nichts zu verbergen“, sagte ein Verwandter einst offenherzig, als es Usus wurde, sich unkritisch zu den ach so schicken digitalen Speichermedien zu stellen - der Satz ist seitdem millionenfach gefallen.

Heinz Markert


Großer Lauschangriff, Online-Überwachung, Schleierfahndung, verdachts- und sachgrundunabhängige Kontrollen - und Vorratsdatenspeicherung, das alles liegt im Kurzgedächtnis des kurz aufgebrandeten öffentlichen Diskurses schon wieder einige Jahre zurück.

Adornos 'Naivetät' war noch literarisch, die reale ist zur Naivität gediehen

Dem Verwandten konnte noch zugesteckt werden, dass die Naivität und Ahnungslosigkeit im Verhältnis zu den zum Fetisch aufgeblähten Monstren des Silicon-Valley ein Defizit an Selbstachtung markiert. Die neue Naivität im Verhältnis zu den neuen Machtkomplexen ist in skandinavischen Ländern schon sehr weit fortgeschritten. Eine Finnin meinte mal, in ihrem Heimatland sei die kontaktlos-digitale Bezahlpraxis schon viel weiter etabliert – und meinte damit: als bei uns rückständigen und skrupulösen Deutschen. Denen aber, so ist einzuwenden, Hitler, der Holocaust und der totale Staat noch tief in den Knochen steckt, zumindest bei den gesellschaftlich Bewussteren. Als solche bleiben wir auf lange Zeit gebrannte Kinder.

Kürzlich nahm sich das Magazin Frontal21 der entwürdigenden Durchleuchtung der Massen, die mit Corona nochmal einen Zahn zugelegt hat, an. Der damit verbundenen Frage entsprechend, ob das Bargeld durch den bargeldlosen Zahlungsverkehr im Alltag des Kaufens und Verkaufens auf Dauer verdrängt werde, wurde gleich zu Anfang dargelegt: laut einer Umfrage des Deutschen Bankenverbandes „zahlen mittlerweile knapp 60 Prozent der Deutschen mit Karte oder Handy“ - mit steigender Tendenz.

Digitale Spuren

Marion Labouré von der Deutsche Bank Research konnte seit Jahresanfang wahrnehmen, wie zwar „mehr Bargeld im Verkehr ist, weil es als sicheres Geld - als Aufbewahrungsmittel gilt“, aber als Zahlungsmittel immer weniger genommen werde. Noch im vorigen Dezember habe ein Drittel kontaktlos bezahlt; doch heute zahlten fast schon 50 Prozent bargeldlos. Unter jungen Schweden boomt der Smartphone-Zahlvorgang. Es ist so leicht wie SMS- oder E-Mail-Verschicken. Aber im Bezahlvorgang werden digitale Informationen abgegriffen, wodurch die dahinterstehenden Systeme nahezu alles mitbekommen. Es wird ein deutscher Professor vorgestellt, der seinem Sohn das Taschengeld online überweist. Dadurch ist er in der Lage, jede Transaktion seines Sohnes zu überblicken, auch jeden Einkauf. Ein befragter Passant aber lässt sich mit seinem Standpunkt in Bezug auf die Nachvollziehbarkeit seines Einkaufsverhaltens mittels Karte wie folgt vernehmen: „Das ist mir ein zu großer Eingriff in meine Einkaufsfreiheit“. Die Bedenken sind also noch nicht ausgeräumt. Das Magazin kommt diesbezüglich auf den Punkt: „Doch jede Suche, jede Bestellung, jede Bezahlung online oder per Karte hinterlässt digitale Spuren“.

Das ist der Überwachungskapitalismus

Sarah Spiekermann, Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien, hat sich mit dem unheimlichen Umstand befasst und herausgefunden: „Tatsächlich werden unsere Bezahldaten systematisch ausgewertet und jeder einzelne Konsument bis ins kleinste Detail analysiert“. Und es sei längst kein Geheimnis mehr, dass diese Daten weitergegeben werden. „Denn wir sehen hier, wer alles zuliefert: Mastercard, Axion-Google, Facebook - Twitter-Stellen“. Sie schlussfolgert: „Das ist Überwachungskapitalismus“. Im Hintergrund stünden hunderte und tausende von Firmen, die Datenaustausch-Vereinbarungen haben.

Das steckt auch dahinter, wenn Penny oder Alnatura schon vor dem Bezahlvorgang an der Kasse fragen: Payback? – Die wiederaufgelebten Märkchen zum Einkleben, die uns schon als 50-Jahre-Kinder begleiteten und durchaus reizten, laufen auf dasselbe hinaus. Hinter dem anscheinend Spielerischen steckt eine massive Anstellung auf unser ach so freies Leben als Konsumenten. Doch zu Näherem: Nur Wohnort, Familienstand, ungefähres Einkommen zu verarbeiten, das sei längst nicht alles. Denn von Interesse seien auch Daten über Schulden, detaillierte Lebensgewohnheiten und Kaufabsichten. Und es gebe inzwischen eine Echtzeitbeobachtung aller Menschen über sämtliche digitale Medien, die sie in irgendeiner Form nutzen. Mittlerweile geht es in diesem Höllensystem um bereits dreißig bis vierzigtausend Daten pro Person.

Die Überwachung lässt kein Persönliches aus – nimmt alles auf den Schirm

Das hat Grundlagen und Konsequenzen. Es werden umfassende Profile erstellt. Dazu einige Stichworte des Sprechers: Mann unter 30, in Neukölln lebend, ohne Dispo, hat billiges Handy; demgegenüber gestellt: Frau aus Berlin Mitte, ausgestattet mit teurerem Smartphone. Oder auch: Familie in Kuhdamm-Nähe, teure Geräte nutzend, vielreisend. Der Unterschied hat Folgen: weniger oder gar keine attraktiven Angebote für Versicherungen, Reisen oder gar Jobs erhalten.

Nach Prof. Spiekermann: trotz Ähnlichkeit und Normalität sind dann doch unterschiedliche Preise für Flugtickets, Hotels, alles Mögliche, auf die Sekunde hin zu bestätigen, soll ein benötigter Kaufvorgang zustande kommen. “Nach dem Motto: friss oder stirb“; „oder dass ich nicht versichert werde oder dass ich nie ein Job-Angebot bekomme“. Das führe in ein systematisches Unglück, wo doch in Wirklichkeit nur Datenbanken über mein Schicksal entscheiden, die – unter Einsatz von Algorithmen – Profile erstellen, „wo im Hintergrund Leute dran Geld verdienen“.

Bargeldaufstand

Die Folgen der digitalen Überwachung haben im tippelfreudigen Schweden Widerstand hervorgerufen. An der Spitze dieser Bewegung steht der ehemalige nationale Polizeichef Björn Ericson. Eine der unhaltbaren Folgen sei auch, dass Menschen, die nicht mit digitalen Systemen umgehen wollen oder können, gesellschaftlich zurückfallen, „etwa eine Million in meinem Land“, wie er sagt. Diese würden schlicht als unprofitabel betrachtet. Seine zentrale Frage lautet: „Sollen wir die einfach ausgrenzen?“ – Seine Antwort: „So eine Gesellschaft möchte ich nicht“. Er will das aber nicht nur auf die Ältesten und Ärmsten begrenzt wissen.

‚You really gonna be chained‘

Was gerade Jüngere beobachteten sei, dass in China und anderen Staaten Bürger lückenlos kontrolliert würden. Und zwar massiv, es übersteigt alles Schriftmaterial und jegliche Schauspielschaffungen der Anti-Utopie, die hierüber schon geschrieben und aufgeführt wurden. Zum System mit den Karten und Smart-Kits kommen die Kameras der öffentlichen Überwachung, in die Gesichtserkennung implementiert ist, die umfassende Profile erstellen, sowie eine in alle Himmel erhobene Künstliche Intelligenz, die nichts ist als ein Abbruchunternehmen und Antidot für Intelligenz. China ist auf dem Weg komplett alles zu durchleuchten, anstatt die menschliche Kreativität im Dienst des Humanum zu organisieren. Als Anregung könnte hierzu ein marxistischer Philosoph wie Bloch herangezogen werden, der den stumpfsinnigen Parteibürokraten die Leistungen der freien und unabhängigen Intelligenz erstmalig vor Augen stellen würde, mit ‚Geist der Utopie‘ und ‚Experimentum Mundi‘, einschließlich auch der Fairness im Umgang frei geborener Wesen mit Ihresgleichen.

Schweden aber, so schließt das Magazin Frontal21, wolle, nach Aussage von Ericson, „Banken und Geschäfte bald wieder verpflichten, Bargeld anzubieten und auch anzunehmen“.

Foto ©
blickpunkt-wiso.de

Info:
‚Bezahlen in der Corona-Krise – wird das Bargeld auf Dauer verdrängt? · Frontal21, 25.08.2020