Oder: Weshalb ein Kämpfer müde wird

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – An dieser Stelle hatte mein alter Bremer Kollege Kurt Nelhiebel am 23. November zum 75. Jahrestag des Nürnberger Prozesses dokumentiert:„Wie das Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher unterlaufen wurde“. Dabei konnte er mit Fällen aus seinem sorgfältig geführten Archiv nachweisen, wie sich westdeutsche Gerichte in den vergangenen 75 Jahren nicht an Nürnberg orientieren mochten, sondern an der Rechtsordnung eines Unrechtsstaates.

Nelhiebel am 23. November:
> Bremen (Weltexpresso) – Das von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs ins Leben gerufene Nürnberger Tribunal hat stellvertretend für die zivilisierte Welt die von Deutschen im Auftrag der NS-Führung begangenen Verbrechen verurteilt und die von den Nazimachthabern erlassenen Gesetze für null und nichtig erklärt. Zehn Jahre später urteilte der Bundesgerichtshof im Prozess gegen einen ehemaligen SS-Richter, für die Frage, ob sich der Beschuldigte der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht habe, sei nicht entscheidend, wie sich die Ereignisse von damals nach heutiger Sicht darstellten. Vielmehr sei ins Auge zu fassen, wie sich seine Aufgabe nach der Gesetzeslage zur Tatzeit darstellte. „Ausgangspunkt dabei ist das Recht des Staates auf Selbstbehauptung“, heißt es in dem Urteil vom 25. Mai 1956, „In einem Kampf um Sein oder Nichtsein sind bei allen Völkern seit jeher strenge Gesetze zum Staatsschutz erlassen worden. Auch dem nationalsozialistischen Staat kann man nicht ohne weiteres das Recht absprechen, dass er solche Gesetze erlassen hat.“ Angeklagt war der ehemalige Chefrichter beim SS-und Polizeigericht München, Otto Thorbeck. Er wurde freigesprochen. Mit seiner Begründung brachte der Bundesgerichtshof das gesamte Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Einsturz, fielen doch die meisten ihrer Taten und die von ihnen erlassenen Gesetze in eine Zeit des „Kampfes um Sein oder Nichtsein“. Dass der BGH dem NS-Staat das Recht zubilligte, aus Gründen der Selbsterhaltung strenge Gesetze zu erlassen, hebelt – von allem anderen abgesehen - alle späteren Prozesse wegen Völkermordes aus. Nach dieser Logik hätten auch die bosnischen Serbenführer Milosevic und Karadzic das Recht auf Selbstbehauptung für sich reklamieren können. Das haben die meisten Kommentatoren, die die Bedeutung des Nürnberger Urteils im Wesentlichen auf die späteren Völkermordprozesse bezogen, übersehen. <

Am 23.11. schrieb ich an Kurt Nelhiebel:

> ... ich schickte heute morgen dem neuen Chefredakteur „Aktuelles“ beim NDR den WPO-Link zu Ihren Hinweisen auf das Komplett-Versagen deutscher Justiz, neues Nazi-Wirken zu stoppen – mit der Frage, warum das bei keinem „Nürnberg“-Gedenken in der ARD eine Rolle spielte. ... <

Antwort von ihm am selben Tag:

> Da bin ich aber gespannt auf die Antwort. Ich schätze, dass die davon noch nie was gehört haben. ... <

Keine Antwort vom NDR bis heute!


Wenige Tage nach dem öffentlich gefeierten Nürnberg-Jubiläum fällte das Bundesverwaltungsgericht ein Urteil, das in den großen Medien zwar nachrichtlich erwähnt, aber in seiner Geschichtsträchtigkeit nicht eingeordnet wurde.

Am 26.11. schrieb ich wiederum an Kurt Nelhiebel:

> Lieber Herr Nelhiebel, ich habe Ihnen unten zusammengestellt, was zu dem neuen, skandalösen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bei der ARD zu finden war. Das passt nahtlos an Ihre bei WPO veröffentlichten Schlussfolgerungen, die nach dem Nürnberger Prozess von westdeutschen Gerichten gezogen wurden. Jetzt wäre aus meiner Sicht dazu von Ihnen eine Fortsetzung fällig. KJS grüßt, und unten kommt die bei der ARD gesammelte Info:

>> Deutschland muss den USA nicht untersagen, die Air-Base Ramstein für Drohnenangriffe im Jemen zu nutzen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschieden. Drei Jemeniten hatten mit Hilfe von Menschenrechtsanwältinnen und -anwälten seit 2015 gegen die Bundesrepublik geklagt - denn die US-Militärbasis im rheinland-pfälzischen Ramstein macht Drohnenangriffe im Mittleren Osten und Afrika überhaupt erst möglich. Wie Panorama und „Süddeutsche Zeitung“ 2013 berichteten, befinden sich in Ramstein wichtige Satelliten-Relaisstationen, welche die Piloten in den USA letztlich mit den Drohnen verbinden. Ohne Ramstein wären tödliche Drohnenangriffe z.B. in Afrika und dem Mittleren Osten also gar nicht machbar. Auf diese Erkenntnisse stützt sich die Klage. Einer der Kläger ist der 62-jährige Faisal bin Ali Jaber. Er verlor nach eigenen Angaben einen Neffen und einen Schwager bei einem Angriff im Jahr 2012. „Ich erwarte und erhoffe mir, dass die deutsche Bevölkerung mit uns fühlt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Deutschen die Rolle von Ramstein im US-Drohnenprogramm gutheißen. Ich appelliere an die Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass Ramstein nicht für illegale Tötungen wie bei US-Drohnenprogrammen benutzt wird.“ Die USA fliegen regelmäßig Drohnenangriffe gegen mutmaßliche Terroristen im Jemen, lange vor dem Ausbruch des Jemen-Krieges. Menschenrechtler beklagen dabei immer wieder, dass häufig aus reinem Verdacht heraus getötet wird, der sich später als falsch erweise. Seine Verwandten seien Lehrer und Polizisten gewesen, sagt der Kläger Bin Ali Jaber. Das Oberverwaltungsgericht Münster hatte im letzten Jahr anerkannt, dass Deutschland aktiv prüfen muss, ob die von Ramstein aus geführten US-Drohnenangriffe gegen das Völkerrecht verstoßen. Es reiche nicht, dass die Bundesregierung sich auf eine amerikanische Zusicherung verlasse, dass nichts Illegales passiere. Deutschland habe eine Schutzpflicht für potenzielle Opfer von Drohnenangriffen, die auch von deutschem Boden aus gesteuert werden, urteilte das OVG. Dies ergebe sich aus dem Grundrecht auf Leben. Das Gericht mahnte zudem eine genaue Unterscheidung von Zivilisten und Kombattanten an. Das Völkerrecht biete keine Grundlage für Militärschläge ohne unmittelbare Gefahr. Die Bundesregierung legte jedoch Revision ein. Nun gab das Bundesverwaltungsgericht ihr Recht. Die Kläger hätten keinen Anspruch, „dass die Bundesregierung über die bisher schon durchgeführten diplomatischen und politischen Konsultationen sowie die Einholung rechtlicher Zusicherungen hinaus Maßnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass die Nutzung der Air Base Ramstein durch die USA für Einsätze bewaffneter Drohnen im Jemen im Einklang mit dem Völkerrecht erfolgt.“ Im Klartext: Die Kläger müssen sich damit zufriedengeben, dass die USA der Bundesregierung versichern, nichts Völkerrechtswidriges auf deutschem Boden zu tun. „Es bestehen weiter Zweifel über diese Auslegung des Völkerrechts. Das Urteil ist für uns nicht nachvollziehbar“, sagte der die Kläger vertretende Menschenrechtsanwalt Andreas Schüller nach Urteilsverkündung gegenüber Panorama. Das Recht auf Leben sei ein zu hohes Gut. Diplomatische Bemühungen dürften hier nicht ausreichen, es müsse Kontrolle geben.„Alle bisherigen Informationen zu dieser Thematik kamen von Whistleblowern und Journalisten. Es ist Zeit, dass die Bundesregierung selbst hinschaut. Wir werden eine Verfassungsbeschwerde prüfen“, so Schüller. <<

Antwort von Kurt Nelhiebel am selben Tag:

> Lieber Herr Schmidt, wenn Sie den Artikel aus dem Anhang gelesen haben, werden Sie vielleicht verstehen, dass ich müde werde, mich mit dem Thema Jutsiz zu befassen. Sie war immer der verlängerte Arm der Politik und ist es noch heute. Wenn es um die Staatsräson geht, entscheidet sie in letzter Instanz immer gemäß der Staatsräson. ... <

Auszug aus Nelhiebels Anhang:
> Weltexpresso, 9. November 2015 / Kurt Nelhiebel
Freifahrschein für Volksverhetzer
Oder: Alles schon mal da gewesen.

... Nachdem eine Reihe von Gerichten 2004 eine Protestveranstaltung der NPD gegen den Bau einer Synagoge in Bochum verboten hatte, machte das Bundesverfassungsgericht in einem Eilrechtsverfahren die Bahn für die geplante Kundgebung schließlich frei. Zur Begründung erklärte es: „Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist ein Recht auch zum Schutz von Minderheiten; seine Ausübung darf nicht allgemein und ohne eine tatbestandliche Eingrenzung, die mit dem Schutzzweck des Grundrechts übereinstimmt, unter den Vorbehalt gestellt werden, dass die geäußerten Meinungsinhalte herrschenden sozialen oder ethischen Auffassungen widersprechen, Beschränkungen der Meinungsfreiheit dürften nicht darauf gestützt werden, was in einer Versammlung möglicher Weise gesagt werden würde, sondern ob sich die Versammlungsteilnehmer gegenüber anderen Bürgern aggressiv und provokativ verhalten würden.“ (1BvQ 19/04). Der Direktor der Berliner Stiftung Topographie des Terrors, Rabbiner Andreas Nachama, wertete die Entscheidung damals als Zeichen eines gesamtgesellschaftlichen Paradigmenwechsels. Wie recht er hatte, zeigt das immer frecher werdende Auftreten des rechten deutschen Sektors, der sich nicht mehr damit begnügt, Ausländer zur Zielscheibe ihrer Ressentiments zu machen, sondern immer häufiger auch die gewählten Vertreter des eigenen Volkes beschimpft - wie damals während der Weimarer Zeit, als Kurt Tucholsky mit Blick auf die Justiz dichtete: „Du gibst dich unparteilich am Strafgesetzbuchband ... Du bist es nicht. Nur freilich: Juristen sind gewandt.“

NACHKLAPP: taz, 20.06.2017:

> Radiojournalist Klaus-Jürgen Schmidt ist Jahrgang 1944 und muss als Nelhiebel-Fan bezeichnet werden. Als sein Mentor vor drei Jahren den Friedenspreis der Villa Ichon erhielt, fand es Schmidt unerträglich, dass „niemand bei Radio Bremen auf die Idee gekommen ist, den medialen Schatz vor der Haustür zu heben“. Also machte er es eben selbst, im Bürgerradio, und die Sendung „Nelhiebels Welt“ gibt’s noch zum Nachhören. <

HIER GEHT'S ZU NELHIEBELS WELT!


Fotos:: Bremer Integrationsforum / Wikipedia / KJS