DAS JÜDISCHE LOGBUCH  

Yves Kugelmann

Basel, (Weltexpresso) -  Das Pandemie-Jahr hat vieles gelehrt: Dass Pandemiegesetze wenig nutzen und Politik auch hier mehr aus dem Moment denn nachhaltig und vorbereitet handelt.  Dass die Pandemie stärker Verbreitung findet, wo populistische oder reaktionäre Parteien bzw. Politiker Mehrheiten haben. Dass Solidarität unter Menschen, Demut, Bescheidenheit durchaus steigt, aber eben auch Rassismus, Antisemitismus, Stigmatisierung.

Dass grosse Teile der Gesellschaften weltweit Wissenshaft, Medieninhalte, empirische Daten zunehmen leugnen und Parallelwelten von den Extremen zunehmend ihre Wege in die gesellschaftliche Mitte finden. Dass technische Kommunikation neue Distanz zwischen Menschen schafft. Dass dieses globale Ereignis durch den Jahrzehntelangen Aufbau starker internationaler und nationaler Sicherungssystem die Gesellschaften herausfordert, aber zugleich der Impact abgefedert werden kann. Dass privilegierte Menschen in der Krise privilegierter bleiben und viele andere Menschen massiv von der Pandemie getroffen werden und Sicherungssysteme vielen Menschen nicht helfen werden. Dass Politiker schlechte Krisenmanager auf Fachgebieten sind und bevorstehende Wahlen auch Einfluss auf die Krisenbewältigung haben.

Dass viele Antworten keine sind und Fragen nicht immer beantwortet werden müssen. Dass die Anspruchsgesellschaft Bescheidenheit lernen muss. Dass andere Kulturen, andere Gesellschaftsmodelle besser mit der Pandemie umgehen können. Dass der Tod in Europas und Amerikas Gesellschaften aus dem Alltag verdrängt ist, Krankheit und Gebrechen von Menschen nicht mehr integraler Bestandteil des Zusammenlebens sind. Dass vieles Dinge neu justiert werden, anderes Gewicht erhalten und Prioritäten sich wandeln. Doch verändert die Pandemie die Welt nachhaltig? Wird danach alles anders sein? Werden Systemfehler behoben, Lehren gezogen, das Zusammenleben neu gestaltet, die ökologische, soziale, wirtschaftliche Frage neu gestellt und nachhaltige neue Lösungen gefunden? Vermutlich nein. Wenn die Gesellschaften durchgeimpft sind in einigen Monaten, wird wohl wenig bleiben von der Pandemie. Auch nicht die Angst oder Respekt vor solchen Ereignissen. Wachstums- sind Verdrängungsgesellschaften, in denen zumindest eine liberale Mitte das absolute, radikale der marktwirtschaftlichen Gesellschaftsform dämpfen kann. Doch genau diese Mitte wird vielleicht das grösste Opfer von Corona sein, wenn sie selbst dem reaktionären Populismus nichts entgegensetzen kann.

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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 18. Dezember 2020
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.