Angriff aufs KapitolDer Angriff aufs Kapitol offenbart den intellektuellen Zustand der USA

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Wer in Harvard studiert hatte, wusste fast nichts; aber er war bereit, Wissen in sich aufzunehmen.“

Mit diesen Worten charakterisierte der Kulturphilosoph und Historiker Henry Brooks Adams 1906 in seiner Autobiografie den intellektuellen Zustand der US-amerikanischen Elite. Dieser Spross einer der einflussreichsten Familien des Landes, die zwei Präsidenten hervorgebracht hatte (John Adams 1797 - 1801, John Quincy Adams 1825 – 1829) musste es wissen. Insbesondere schien ihm die desolate Bildungssituation bewusst gewesen zu sein, über die auch Universitäten mit vermeintlich exzellenten Namen nicht hinwegtäuschen konnten. Und so war es keine Übertreibung, sondern eine realistische Bestandsaufnahme, als er in seiner Lebenserinnerung ergänzend notierte: „Harvard war sicher nicht so schädlich wie die anderen Universitäten. Man lernte wenig und das Wenige schlecht; aber der Geist blieb offen und frei von Vorurteilen – ahnungslos, aber noch formbar.“

Zumindest in einem Punkt pflegte aber selbst Adams erhebliche Vorurteile. Denn er verabscheute Juden und Sozialisten, die er häufig im Zusammenhang nannte. Wiederholt brachte er seine Abscheu über „die völlig unheilbare, extreme Fäulnis unseres ganzen sozialen, industriellen, finanziellen und politischen Systems“ zum Ausdruck, für die er neben den erwähnten Lieblingsfeinden vorrangig das gesamte politische System verantwortlich machte.

Wegen letzterer Mutmaßungen bieten seine Analysen zahlreiche Deutungsmuster dafür, warum es in den USA bis heute neben wissenschaftlichen Spitzenleistungen so unendlich viele bildungsferne und dissoziale Menschen gibt. Und warum ein formal demokratisch verfasster Staat, der weltweit als Schrittmacher in der industriellen Produktion und der digitalen Technologien gilt, ständig vor den sozialen Fragen kapituliert. Obwohl die meisten wirtschaftlichen Prozesse auf einer breiten Arbeitsteilung basieren, sind die Strukturen der staatlichen Daseinsvorsorge völlig unzureichend. Faktisch wird vielen Gruppen der Bevölkerung die gesellschaftliche Teilhabe durch kaum überwindbare Zugangsvoraussetzungen verweigert. Das macht sich insbesondere im Bildungs- und Kulturwesen sowie im Gesundheitssystem deutlich bemerkbar. Die an den High-Schools vermittelte Allgemeinbildung ist nach wie vor unzureichend. Von den ca. 3.500 Universitäten genießen etwa 60 einen guten bis sehr guten, auch international anerkannten, Ruf. Vor allem die privatwirtschaftlich organisierten Hochschulen bieten Studiengänge an, die aus deutscher und westeuropäischer Sicht Erstaunen hervorrufen. Beispielsweise kann man einen Bachelor in Bestattungswesen erlangen. Bildung folgt dem Kommerz. Und so ergeht es auch der Gesundheit, der inneren Sicherheit, dem Wahlrecht und vielem anderen.

Dem gegenüber gelingt die Verbindung von detaillierter Theoriekenntnis mit praktischer handwerklicher Fertigkeit selten, weil es kaum entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten gibt. Solange vor allem die Automobilindustrie auch einfache Arbeit bot, in der Regel mechanische Hilfstätigkeiten, zu denen man angelernt werden konnte, war sie ein Beschäftigungsgarant für weite Bevölkerungsteile. Doch diese Zeit ist vorbei. Übriggeblieben sind die Abgehängten, die mit der neuen Komplexität (Automatisierte Prozesse, Digitalisierung, Fremdsprachenkenntnis) nicht zurechtkommen, weil ihnen die Grundlagen fehlen, weil sie ihnen nie zuteilwurden. Für sie war Trumps Mantra „Make America great again“ ein Rückgriff in die Vergangenheit und die Verheißung einer rosigen Zukunft. Da sie in der Schule den Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit nicht gelernt hatten, fielen sie auf diese populistische Brot-und-Spiele-Propaganda herein.

Die plausibelste Erklärung für die bewusste Verdrängung der Tatsachen durch scheinbare Fakten liegt in der traditionellen Heiligsprechung des Individuums und der Geringschätzung des Staats. Die Folgen zeigen sich sowohl im Unternehmertum als auch in der wesentlich dem Einzelnen überantworteten Lebensgestaltung und Lebensvorsorge. Und nicht zuletzt in einer Politik, die den Blick auf die gesamte Welt und deren Probleme und Herausforderungen verlernen könnte.

Sozialgeschichtlich ist diese Einstellung auf die Konkurrenz zweier historischer Ereignisse zurückzuführen, die zeitlich eng beieinander lagen, deren Auslöser aber völlig unterschiedlich waren und sich auf diametral entgegenstehende Weltanschauungen gründeten. Am 4. Juli 1776 erfolgte die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, welche die Trennung der Kolonien von Großbritannien endgültig vollzog. Am 14. Juli 1789 begann mit dem Sturm auf die Bastille in Paris die Französische Revolution.

Der Aufstand in den Kolonien war zum einen eine Folge der finanziellen Bürden sowie der rechtlichen Einschränkungen, die das Mutterland erlassen hatte. Zum andern war das Staatsverständnis der Siedler von Anfang an stark durch religiöse Überzeugungen geprägt. Neben der sozialen Not hatte diese zur Auswanderung aus der ursprünglichen Heimat geführt. Die aus Europa, vor allem aus England stammenden Amerikaner lehnten monarchische Staatsformen mit Hinweis auf die Bibel und speziell auf das Alte Testament grundsätzlich ab. Daran änderte sich auch kaum etwas, als der Puritanismus der ersten Generation an Kraft verloren hatte. Nach wie vor versuchten die Siedler, ihren Lebensalltag an dem Gott der Bibel auszurichten, an den sie fest glaubten und den sie verherrlichten.

Die Unabhängigkeitserklärung trägt diesen Vorstellungen Rechnung: „Alle Menschen sind gleich geschaffen“ und „der Schöpfer hat ihnen bestimmte unveräußerliche Rechte verliehen“, zu denen „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören“. Selbst die Gründerväter um George Washington begriffen sich als Werkzeuge in der Hand der göttlichen Vorsehung. Es ist nicht zufällig, dass seit 1865 die Münzen die Prägung „In God we trust“ tragen. Seit 1955 gilt das auch für das Papiergeld.

Aus Paris hingegen wehte ein Jahrzehnt nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ein ganz anderes Verständnis von Mensch und Staat. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ lautet bis heute das säkulare Credo der Französischen Republik und knüpft damit an die europäische Aufklärung an. Vor allem der zweite US-Präsident, der eingangs erwähnte John Adams, sowie sein Nachfolger Thomas Jefferson nahmen daran Anstoß, was zu Konflikten mit Paris führte. Sowohl das monarchische als auch das Frankreich der Revolution besaßen in Amerika eine riesige Kolonie, nämlich Louisiana, westlich und südlich des US-amerikanischen Territoriums. Der Konkurrent jenseits der Grenzen war zudem ein ideologischer Gegner. Doch Napoleon Bonaparte, der einen Zweifrontenkrieg mit Großbritannien fürchtete (in Europa und Amerika), verkaufte die Besitzungen. Dennoch konnte sich dieser Geist der Freiheit auch in den USA verbreiten. Vor allem an der Ostküste, wo sich die einst rein theologischen Hochschulen allmählich zu Universitäten nach deutschem, damals hoch geachteten, Vorbild wandelten.

Dennoch blieb das Land gespalten. Der Forderung nach dem Glück des Einzelnen in der US-amerikanischen Verfassung fehlt die Verpflichtung zur Solidarität. Hierin liegt die Ursache für die bis heute ungelösten sozialen Konflikte, deren Begleitmusik Bildungsferne, Rassismus und akzeptierte Gewalt sind. Donald Trump ist aus diesen Konflikten hervorgegangen. Er konnte und wollte sie nicht bewältigen und aus der Welt schaffen, weil das die eigene Selbstaufgabe und die seiner Anhänger bedeutet hätte. Folglich goss er ständig Öl in ein Feuer, das sich ohnehin längst verselbstständigt hatte. Bis in die letzten Tage seiner Amtszeit hinein. Joe Biden, sein Nachfolger, wird die USA zu einem neuen Selbstverständnis führen müssen. Für dieses Land geht es um Sein oder Nichtsein.

Foto:
Screenshot „Angriff aufs Kapitol“
© tagesschau.de

Info:
Die Eingangszitate sind diesem Buch entnommen:
„Die Erziehung des Henry Adams. Von ihm selbst erzählt.“,
Zürich 1953, Manesse Verlag