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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2021 06 03 um 22.15.33Steht ab gestern Nacht eine neue israelische Regierung?

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Die Nacht auf den Donnerstag dürfte in die israelische Parlaments-Geschichte als jene Nacht eingehen, in der, nur sprichwörtlich, natürlich, die israelischen Parlamentarier die Messer aus den Etuis gezogen haben und aufeinander losgegangen sind. De Facto sieht es harmloser aus, deswegen aber nicht weniger bedeutsam für die Zukunft einer nun offenbar entstehenden Regierung des Jüdischen Staates.

In der späten Mittwoch Nacht hat nämlich Yair Lapid,  Chef der «Jesch Atid»-Partei (es gibt eine Zukunft), wenige Zeit vor Mitternacht, dem Ablauf der dazu nötigen Frist verkündet: Es ist mir gelungen, eine Regierung zu bilden. Möglich geworden ist dies allerdings erst, nachdem Mansur Abbas, Vorsitzender der arabischen Raam-Partei den dazu nötigen Koalitionsvertrag unterzeichnet hat. Zudem fanden eine ganze Reihe von Sitzungen der Anführer des anti-Netanyahu-Lagers statt.

Darüber, was genau in diesen Sitzungen wem versprochen worden ist, schweigt die Chronik des Berichterstatters vorerst noch, denn höchst wahrscheinlich wird ein Großteil dieser Versprechungen schon bald nicht einmal mehr das Papier wert sein, auf dem sie geschrieben worden sind. Beflügelt worden sind die verschiedenen Mitglieder der neuen Regierungskoalition von einem einzigen Gedanken: Vom Rauswurf des bisherigen Regierungschefs Binyamin Netanyahu aus Regierung und Koalition.

Ohne weitere Überraschungen im überletzten Moment wird damit Netanyahu auf der Oppositionsbank Einsitz nehmen müssen. Reicht das aber bereits als geistiges Futter für die neue Regierung? Miki Zohar, der Sprecher des Likuds, sprach am Mittwoch nach Mitternacht von der «jubilierenden Linken», gleichzeitig aber auch von einem «traurigen Tag für Israel».

Verständlicherweise grundlegend anders ertönte es im neuen Regierungslager. Dort sprach man in der Nacht auf den Donnerstag vom «Aufbruch zu neuen Ufern». Danach habe sich das israelische Volk seit Jahren schon gesehnt. Wir wollen hier keinesfalls die Rolle des Spielverderbers übernehmen, doch es wäre beileibe nicht das erste Mal, dass der Traum eines Volkes in der israelisch-jüdischen Gegenwartsgeschichte sich zum Albtraum wandelt. Wie dem auch sei: In Israel wurde am späten Mittwochabend insofern politische Historie geschrieben, als dass mit Raam erstmals in der über 70-jährigen Geschichte des Jüdischen Staates eine arabische Partei nicht nur von der Oppositions- auf die Regierungsbank gewechselt hat, sondern für sich auch den fast unglaubhaft anmutenden Ruhm in Anspruch nehmen darf, zumindest gleichviel für das Zustandekommen des Kabinetts getan zu haben wie etwa die nationalistische Yamina-Partei des neuen (wahrscheinlichen) Premierministers Naftali Bennett, die sozialistische Arbeitspartei, die liberale Meretz oder Blauweiß mit dem derzeitigen Verteidigungsminister Benny Gantz.

Die Israel-Araber haben nun die Chance, durch das Aufholen einer in Jahrzehnten immer tiefer gewordene Kluft zur jüdischen Hausmacht des Staates durch politische Weitsicht und Klugheit zumindest teilweise zu schließen. Ob das Ansinnen gelingt, kann heute noch niemand vorhersagen, außer er wäre ein unseriöser Spekulant. Das Risiko schwebt nämlich über der Knesset zu Jerusalem, dass die beinahe naturwidrige Koalition nach kurzer Dauer wieder auseinanderbrechen wird. Die Erinnerung an die brenneden Autos vor wenigen Wochen, verbunden mit anti-jüdischen Lynchversuchen steckt dem Volk nämlich noch arg in den Gliedern. Daran werden auch die optimistischen Worte, die Yair Lapid gegenüber Präsident Rivlin geäussert hat, wenig ändern können. Die neue Regierung werde alles tun, um die Teile der israelischen Gesellschaft zu vereinen und zu einer Einheit zusammenzuschweißen.

Der Beweis für die heute noch kaum fassbare Realität liegt in Taten, die unweigerlich zu folgen haben: In wirtschaftlichen und finanziellen Bereichen, aber auch auf sozialen Gebieten und dem Feld der Gleichberechtigung, vorausgesetzt, die über Nacht von unbequemen Nachbarn und Demonstranten zu schon bald auf volle Gleichberechtigung pochende Partner. Yair Lapids Koalition setzt sich aus den folgenden Parteien zusammen: Jesch Atid, Yamina, Blauweiß, Neue Hoffnung, Arbeitspartei, Israel Beiteinu, Meretz und der Vereinigten Arabischen Liste.

Der Staat Israel geht interessanten Zeiten entgegen, die voller Chancen sind, die bei kurzsichtig-arroganter Handlungsweise aber schon über Nacht zur lebensgefährlichen Gefahr werden können.

Foto:
Die Knesset
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 3. 6. 2021