Kardinal Marx erlautert sein Rucktrittsangebot vor den MedienKardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, hat dem Papst seinen Rücktritt angeboten

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Je mehr ich mich mit christlicher Theologie beschäftigte, umso stärker wuchsen meine Zweifel an der Sache mit Gott.

Denn die Ergebnisse der historisch-kritischen Erforschung der neutestamentlichen Schriften erbrachten keinen Beweis für die Existenz eines historischen Jesus, wie er in den Evangelien beschrieben wird. Ebenso keine Belege für Maria und Josef, für die Wunder oder für Kreuzigung und Auferstehung. Stattdessen viele Fundstellen für Aussprüche, die direkt oder indirekt der Hebräischen Bibel entstammen. Und Linien zu Anleihen bei der altgriechischen Mythologie, für die Gottessohnschaft und Blutopfer typisch war. Vor allem im Johannesevangelium und in den paulinischen Schriften begegnet man dem hellenistischen Bodensatz dieser Offenbarung. Bei Markus und Matthäus hingegen sind Spuren feststellbar, die zu einer Reformbewegung innerhalb des Judentums führen. Einer Bewegung, die – ähnlich wie die Propheten des Alten Testaments – zur Umkehr aufrief. Nämlich zur Rückbesinnung auf den gestaltlosen und namenlosen Gott, dessen Wesen durch eine orthodoxe Priesterkaste, die Sadduzäer, offenbar verfälscht worden war. Sie machten die buchstabengetreue Befolgung von Riten und religiösen Gesetze zur Richtschnur für den gläubigen Juden. Und es scheint sich um Reformer gehandelt zu haben, welche auch die alte Hoffnung auf den Messias, den geistlichen und weltlichen Erlöser Israels, neu belebten.

Das Neue Testament ist 30 bis 100 Jahre nach der Zeitenwende entstanden. Die Verfasser waren keine Augenzeugen des Geschehens. Sie verstanden sich nicht als Chronisten. Vielmehr schrieben sie in heilsgeschichtlicher Absicht. Vermutlich waren es Juden, die sich in dieser Phase der spätrömischen Antike bereits vom alten Glauben entfremdet hatten. Allein der Umstand, dass sie sich für die Niederschrift ihrer Glaubenszeugnisse des Altgriechischen bedienten, ist kein Zufall. Dem neuen Bekenntnis, das sie begründeten, fehlte jedoch die Plausibilität, also jenes Wissen, ohne das auch eine Religion nicht auskommt. Während das Judentum aus dem Zusammenklang von Volk, Land und einzigem Gott lebte und lebt, vermag das Christentum lediglich eine synthetische heilige Familie vorzuzeigen: Gott, den Sohn und den Heiligen Geist.

Noch mehr als 200 Jahre später, als das Christentum längst zur römischen Staatsreligion geworden war, stritten sich seine Theologen um die Frage, ob Jesus wahrer Gott oder wahrer Mensch gewesen wäre. Im Glaubensbekenntnis, welches das Konzil von Nicaea 325 beschloss, heißt es:

„Wir glauben an einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge.

Und an einen Herrn (Kyrios), Jesus Christus, Gottes Sohn, als eingeborener Sohn erzeugt aus dem Vater, das ist aus der Wesenheit des Vaters, Gott von Gott, Licht von Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht erschaffen, gleichen Wesens mit dem Vater, durch den alles erschaffen worden ist, was im Himmel und auf Erden ist, der um unsertwillen, der Menschen, und zu unserer Erlösung herabgekommen ist und Fleisch angenommen hat, Mensch geworden ist, gelitten hat und am dritten Tag auferstand, aufgefahren ist in die Himmel , und kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten.

Und an den heiligen Geist.“

Gleichwohl endet dieses ausschweifende Bekenntnis mit einer Drohung:

„Diejenigen, die sagen: »Es gab eine Zeit, da er (Christus) nicht war, und bevor er gezeugt wurde, war er nicht, und er entstand aus dem Nichts«, oder behaupten, er bestehe aus anderer Art oder Wesenheit; oder meinen, der Sohn Gottes sei erschaffen oder habe eine andersartige oder verwandelte Wesenheit (als Gott sie hat), - diese belegt die allgemeine (»katholische«) Kirche mit dem Bann.“

Auf einem derartigen ideologischen Grund konnte – unter tatkräftiger Unterstützung durch die weltliche Herrschaft – nichts anderes entstehen als eine religiöse Organisation, deren Dogmengebäude jeder Vernunft und Humanität widerspricht. Die eigene Machtstrukturen geschaffen hat, das Priestertum auf Männer beschränkt, die Geistlichkeit als Stand definiert (Klerus), eine widernatürliche Sexualmoral hervorbringt, symbolische Handlungen (die Sakramente) verabsolutiert, ihren Vorsteher als Stellvertreter Christi versteht und ihm Unfehlbarkeit in Glaubensdingen zuerkennt.

Irgendwann würde der katholischen Kirche dieser Plunder auf die Füße fallen.

Auslöser des Niedergangs ist nunmehr der massenhafte sexuelle Missbrauch Schutzbefohlener, insbesondere dessen halbherzige, auf Vertuschung zielende Aufarbeitung.

Kardinal Reinhard Marx fühlt sich durch dieses System gewordene Unter-den-Teppich-kehren persönlich und theologisch herausgefordert. Die Kirche befindet sich nach seiner Wahrnehmung an einem „toten Punkt“, wie er in seinem Rücktrittsgesuch an den Papst formulierte. Es ist anzunehmen, dass Marx an eine grundlegende Umkehr denkt, um die gesamten strukturellen und ethischen Probleme der Kirche angehen zu können. Schließlich sind katholische Theologen, die über den Tellerrand hinaus sehen konnten, Jahrhunderte lang gegen Wände gerannt. Dies habe die Wände jedoch nicht aufgelöst und daran würde sich vermutlich auch künftig nichts ändern, wie der Jesuit und Hochschullehrer Karl Rahner einmal desillusioniert feststellte. Reinhard Marx‘ Rücktrittsgesuch kommt deswegen einem innerkirchlichen Erdbeben gleich.

Allerdings ist derzeit ungewiss, ob Papst Franziskus den selbstbewussten und streitbaren Theologen im Amt hält. Möglicherweise könnte eine Annahme des Rücktritts größere Auswirkungen haben. Vielleicht sollte ihm der Vatikan deswegen und ohne die Folgen zu ahnen, im Exil die Gelegenheit geben, ein Manifest zur Umgestaltung der katholischen Kirche zu verfassen, das zur Grundlage einer neuen geistlichen Kommunität ohne Ausgrenzungen werden könnte.

Eine Kirche, die sich am Abgrund befindet, besäße ein Recht auf ihren Marx und auf ihren besonderen Marxismus.

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Kardinal Marx erläutert sein Rücktrittsangebot vor den Medien
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