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Kategorie: Zeitgeschehen
dwcomwahlDAS JÜDISCHE LOGBUCH  Anfang Juni 

Yves Kugelmann

Amsterdam (Weltexpresso) - Dass vorbildliche Demokratie Hand in Hand mit dramatischer politischer Verrohung einhergehen kann, haben die letzten Tage der Regierungsbildung in Israel gezeigt. Der demokratische Diskurs in Israel geht in Richtung breite Parteienkoalition und beendet damit hoffentlich bald Binyamin Netanyahus Ränkespiele zum Machterhalt.

Doch diese Demokratie geht ebenso wie die letzten vier Wahlkämpfe mit Drohungen von Politikern gegen Politiker, Morddrohungen von Extremisten, Stigmatisierung von demokratischen politischen Parteivertretern mit tagelangen Demonstrationen von Extremisten vor deren Privathäusern, verbaler Hassrede und totaler Eskalation, Rassismus und jüdischem Antisemitismus gegen Juden einher.

Extremisten drohen mit der Ermordung von Kindern von Politikern, Netanyahu ruft ähnlich wie Donald Trump dazu auf, «alles zu tun», um bevorstehende «Veränderungen» zu verhindern. Koalitionsmitglieder Avital Schaked und Yamina-Anführer Naftali Bennett erhalten seit Dienstag erhöhten Personenschutz durch den Inlandsgeheimdienst Schin-Bet. Die Meretz-Abgeordnete Tamar Zandberg musste nach Drohungen gegen ihre kleine Tochter mit der Familie das Haus verlassen. Auf Plakaten werden Yair Lapid und seine Koalitionspartner mit Palästinensertüchern gezeigt und mit Nazis verglichen.

Alles schon dagewesen. Es war genau diese Art von Plakaten und eskalierender Hassrede, die Binyamin Netanyahu während seiner Wahlkampfkundgebungen mit Motiven von Itzchak Rabin in SS-Uniform 1995 zuließ, was zum Vorlauf für die Ermordung des damaligen Premiers wurde. Rabbi Dov Lipman rief in den letzten Tagen in einem eindrücklichen Video zur Mäßigung und dazu auf, die Linke und andere politische Parteien nicht mit Drohungen, Lüge und Hass zu übersähen, sondern den wichtigen demokratischen Prozess für eine breite Konsenskoalition zu würdigen. Dass ausgerechnet die sogenannte jüdische Diaspora diese Verrohung in Israel permanent unkommentiert zulässt oder ignoriert, in Europa und den USA aber zu Recht Alarm geschlagen wird, wenn die liberale Demokratie bedroht wird und Populismus, Extremismus, Hass gegen Juden, Nazivergleiche um sich schlagen, dann ist das ein Symptom eines seltsamen Eiertanzes und gedemütigten Selbstverständnisses. Die jüdische Gemeinschaft weltweit kann kein Interesse an dieser Verrohung und am Messen mit zwei Ellen haben, sondern soll endlich Position beziehen und sich gegen falsche Vereinnahmungen von jeglichen und genauso von israelischen Nationalisten lösen.

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©dw.com

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 4. 6. 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.