Grafische Darstellung der Ergebnis der Landtagswahl in Sachsen Anhalt 2021Zum Ausgang  der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt I

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wenn man denkt, schlimmer könnte eine politische Niederlage nicht mehr werden, fallen unversehens ein paar dumme Sprüche, die das Chaos perfekt machen.

So geschehen, nachdem die Hochrechnungen über das Ergebnis der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt keine Spekulationen mehr zuließen. Da wurden die Verlierer, also Linke, SPD und Grüne, nach den Ursachen ihres Desasters befragt. Die Antworten kulminierten in der Behauptung, dass man sich im Schatten von CDU und AfD befunden habe. In einer solchen Situation sei es schwierig gewesen, das je eigene Profil herauszustellen.

Das klang wie die Klage von Einzelhändlern, die sich darüber beschweren, dass die traditionelle Kundschaft in Richtung Warenhaus oder Internethandel abwandert. Schaut man in die Schaufenster solcher Geschäfte, stellt man fest, dass die offerierte Ware den Charme von vorgestern verströmt. Und dass der Kundendienst, also Beratung und Service, aus der Zeit gefallen scheinen. Sofern die Krämer über einen Internetshop verfügen, fallen einerseits unangemessene und überhebliche Werbesprüche auf und andererseits ein eingeschränktes Sortiment samt schlecht erläuterter Artikel.

Um im Bild zu bleiben: Im alten linken Laden gab es neben einer gut sortierten Auswahl für den alltäglichen Bedarf und gelegentlichen Sonderangeboten auch noch die persönliche Betreuung. Letztere umfasste Hilfestellungen für den Umgang mit Behörden oder bei der Suche nach einer Wohnung, einem Kindergarten oder einem Facharzt. Im SPD-Laden war man etwas abgehobener, fühlte sich mehr als Polit-Dealer denn als Verkäufer, vermittelte jedoch das Gefühl, die Wünsche der Menschen gut zu verstehen und sie so rasch wie möglich auch erfüllen zu können. Man rechnete sich zu einer Händlerorganisation, die über erhebliche Markteinflüsse verfügte. Der grüne Laden war zwar etwas Ideologie lastig (die Verkäuferinnen trugen überwiegend Sackleinen, die bärtigen Verkäufer waren ehemalige Philosophen oder Sozialarbeiter), aber die Lebensmittel sahen nicht nur gesund aus, sie waren es auch und schmeckten gut. Die bunten Plakate mit den unterschiedlich formulierten Forderungen nach dem Erhalt der natürlichen Umwelt wurden einem sehr praktischen Glaubwürdigkeitstest unterzogen.

Doch dann stellte sich ein Systemwechsel ein. Seit einiger Zeit wird man in diesen Läden als „Liebe Kunden*innen“ angesprochen, obwohl die Männer lieber Männer bleiben und die Frauen auf keinen Fall eine *in, also Anhängsel des Mannes, sein wollen. Die Stammkundschaft, welche den früheren Ladenbetreibern zu einem gewissen Wohlstand verholfen hatte, empfindet solches Gebaren als Ausdruck unpersönlicher Beliebigkeit. Es kommt nicht nur der Verdacht auf, über die tatsächlichen Ziele des Geschäfts im Unklaren gelassen zu werden. So mancher hat sogar den Eindruck, längst über den Tisch gezogen worden zu sein. Zählten einst Gerechtigkeit und Solidarität zu den erstrebenswerten Tugenden, begnügt man sich mittlerweile mit einer vermeintlich gerechten Beschreibung, besser Umschreibung der Verhältnisse. Letzteres nutzt ausschließlich den Verhältnissen, führt aber in keinem Fall zu ihrer Veränderung. Konnte man in den alten linken, sozialdemokratischen und grünen Läden auf ein offenes Ohr für seine Anliegen hoffen, wird man jetzt zum Standardkonsumenten für Waren aller Art geformt. Die einstigen Verfechter sehr konturierter Weltanschauungen haben ihre Profile verloren, haben sie in übermütiger Verkennung der tatsächlichen Interessens- und Herrschaftsverhältnisse aufs Spiel gesetzt. Ja, sie haben sich als Hasardeure betätigt und dieses Spiel verloren und sind in ein diffuses Schattendasein eingetaucht. So ist es kein Wunder, dass sich die herkömmliche Klientel alleingelassen fühlt. Wer kann, wer will sich ihrer noch annehmen? Wo sind die Nothelfer für die sozial Benachteiligten, für die aus unterschiedlichsten Gründen Abgehängten, für alle die, nicht in konfektionierte Rahmen passen? In Sachsen-Anhalt flüchteten etliche von ihnen zur AfD.

Ministerpräsident Reiner Haseloff erwies sich im Wettbewerb um die politische Macht hingegen als exzellenter Markenmanager. Seiner CDU hat er ein Alleinstellungsmerkmal verordnet, das eindeutig ist und keine Unklarheiten aufkommen lässt. Konservativ mit Öffnungen zum liberalen Bürgertum, wirtschaftsfreundlich mit einer sensiblen Antenne für soziale Probleme. Und eindeutig abgegrenzt gegenüber Rechtsradikalen wie der AfD. Haseloff hat all das richtig gemacht, was Linke, SPD und Grüne völlig falsch gemacht haben. Und er hat den Zauderern in seiner eigenen Partei zu verstehen gegeben, dass sich Kompromisse, zu denen man schon im Vorfeld bereit ist, nicht auszahlen. Dass man an ihnen sogar als Wahlsieger scheitern kann. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn Vereinbarungen zur Bildung von Regierungskoalitionen unumgänglich sind, wird man zwangsläufig Zugeständnisse machen müssen. Aber wer ohne klare politische Positionen die Ära der Politik betritt, hat deren Konditionen nicht verstanden.

Die Wahl in Sachsen-Anhalt gilt als Generalprobe für die Bundestagswahl im September. Die Rahmenbedingungen unterscheiden sich jedoch, zum Teil sogar erheblich. Die Verlierer von Magdeburg sind woanders selten in besseren Positionen. Die Linke verliert auch in anderen ostdeutschen Ländern an die AfD und sie kränkelt im Westen. Die SPD findet in Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz einen deutlich positiven Widerhall, aber diese Zuneigung könnte trügerisch sein, wenn es um die Bundespolitik geht, wo vielfach nach universell gültigen Maßstäben gemessen wird. Ihre einstige Festung NRW hat sie an Armin Laschet verloren, den Konkurrenten von Olaf Scholz im Kampf um das Kanzleramt. Die Grünen sind in Baden-Württemberg stark, allerdings ist das vor allem die Stärke von Winfried Kretschmann. In Hessen erzielen sie gute Ergebnisse, sind Regierungspartner der CDU, und haben jüngst die Kommunalwahl in Frankfurt gewonnen. Zu ihren größten Sympathisanten zählen die jungen Menschen von „Fridays for Future“. Doch gerade sie stellen zunehmend die Systemfrage. Nämlich, ob sich Klima- und Umweltschutz innerhalb der Grenzen, die der neoliberale Kapitalismus setzt, verwirklichen lassen. In diesem Punkt sind sie weiter als Annalena Baerbock und Robert Habeck.

In den USA verfasste 1931 die den Bergarbeitergewerkschaften nahestehende Texterin Florence Reece das Lied „Which Side Are You On?“. Es wurde zum Vorbild des DDR-Agitationssongs „Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst“, der 1967 vom „Oktober-Klub“ gesungen und sehr bekannt wurde, auch im Westen. Unabhängig von der Systempropaganda, die dort zum Ausdruck kommt, könnte diese Aufforderung ein Prüfstein für Linke, SPD und Grüne vor der Bundestagswahl sein. Denn die Wähler möchten reinen Wein eingeschenkt bekommen. Dann hätten sie auch eine Wahl.

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