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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2021 08 18 um 01.57.58AFGHANISTAN im August 

Andreas Mink

New York (Weltexpresso) - Das Ende der amerikanischen Präsenz in Kabul löst in den USA Verwirrung, Selbstmitleid und hektische Schuldzuweisungen aus. Von einer besonnenen Suche nach Lektionen ist wenig zu sehen.

Der rasante Kollaps der von den USA und Nato-Staaten gestützten Regierung in Kabul am Wochenende gibt in amerikanischen Medien der Rede von Afghanistan als «Friedhof der Imperien» Auftrieb, der nach den Briten (1839), Sowjets (1979-89) nun auch auf schicksalshafte und irgendwie natürliche Weise Amerika zum Verhängnis geworden sei. Diesem Konstrukt soll hier widersprochen werden: Auch in Afghanistan verlief die Geschichte vielmehr so, dass Imperien mit ihrem Streben nach Dominanz im «globalen Süden» Friedhöfe schaffen. Dies gilt bereits für die britisch-imperiale Zeit. Nach der katastrophalen Niederlage eines britischen Expeditionsheeres in Kabul 1839 konnte das Empire (bzw. die britische East India Company als Vorläufer bis 1857) afghanische Streitmächte in drei Kriegen entscheidend schlagen. Die Sowjets brachten bis zu zwei Millionen Afghanen ums Leben. In den letzten Jahren forderten amerikanische Luftangriffe und Kommando-Operationen eine höhere Zahl ziviler Opfer, als Aktionen der Taliban.

Nun setzt in den USA eine Wehklage über die angeblich guten Absichten der Intervention nach 9-11 ein. Aber Washington hat seit der Carter-Ära indirekt und direkt in Afghanistan interveniert. Doch nun will Präsident Joe Biden dort nicht mehr an einem Bürgerkrieg mitwirken, den er und seine Sprecher implizit unverbesserlich korrupten und archaischen Orientalen in die Schuhe schieben.

Damit ist die aktuelle Situation selbstverständlich noch nicht erklärt. Dies soll hier in einer groben Reduktion auf wesentliche Fragen unternommen werden: Afghanistan als Objekt imperialer Projekte, sowie Konflikte zwischen auf Selbstbestimmung bedachten, tribalen Bevölkerungen und urbanen Machtzentren. Wesentlich sind hier (historisch auch als «Afghanen» bezeichnete) Paschtunen-Stämme, die vor 2300 Jahren angeblich bereits Alexander dem Grossen widerstanden haben. Um 1740 eroberte der Heerführer Ahmad Schah (1722-1772) aus dem Stamm der Durrani-Paschtunen ein von Ostpersien bis nach Delhi ausgedehntes Reich, das seinen Tod nicht lange überlebt hat. Anschliessend geriet die Region zwischen die Fronten der vom Indus her vordringenden Briten und des in Zentralasien expandierenden Zarenreiches. Beide Mächte zogen schliesslich die Grenzen des heutigen Afghanistan als Kunst- und «Pufferstaat». Dabei zerschnitt die «Durand-Line» 1893 im Süden die Paschtunen-Gebiete.

In Kabul herrschten bis 1973 Monarchen aus Klans der Barakzai-Paschtunen (denen auch der vormalige Präsident Hamid Karzai angehört), die nur über kurze Epochen einen Ausgleich mit selbstbewussten Paschtunen-Stämmen erreichen konnten. Diese waren und sind wiederum auf Dominanz über Minoritäten wie Belutschen, Hazaras, Tadschiken und Usbeken bedacht. Gleichzeitig entstanden in Kabul und anderen Zentren heterogene, urbane Milieus einschliesslich kommunistischer Gruppen, die eine Modernisierung und Zentralisierung des afghanischen Staatswesen anstrebten. Dies führte nach 1973 zu Militär-Coups, einer kommunistischen Machtübernahme und schliesslich dem sowjetischen Einmarsch Ende 1979. Die Folgen sind bekannt: von den USA, arabischen Golfstaaten und Pakistan geförderte «Mudjaheddin», ein blutiger Bürgerkrieg, die Entstehung von Al Kaida, 9-11.

Südlich der Durand-Linie war es den Briten nur mühsam und mit erheblichem, militärischen Aufwand gelungen, die Paschtunen in ihrer «Northwest Frontier Province» unter Kontrolle zu halten. Mit der indischen Unabhängigkeit/Teilung 1947 entstand in Afghanistan und diesen Grenz-Provinzen eine für die Integrität Pakistans bedrohliche «Paschtunistan-Bewegung». Gleichzeitig begann der religiös geprägte Konflikt zwischen Pakistan und Indien um Kaschmir, für den Islamabad zunächst auch auch Paschtunen-Krieger zu einem Jihad mobilisiert hat. Kontrolle über das Geschehen im Nachbarstaat wurde für Pakistan daher zu einer existentiellen Notwendigkeit: es galt die Paschtunen im Zaum zu halten und Indien an einer Allianz mit Kabul zu hindern, die zu einer Einkreisung Pakistans führen könnte.

Deshalb hat Pakistan zunächst die Mujaheddin und nach 1990 die Bildung der Taliban finanziert und nach Kräften unterstützt. Die Rolle des Islam als «Ideologie» tribaler Widerstände gegen staatliche und imperiale Autorität hat der in Pakistan als Sohn einer elitären Barakzai-Familie geborene Politologe Akbar Ahmed 2016 im aufbau-Interview erläutert (Link): Die USA hätten in Afghanistan auf denkbar falsche Weise agiert. Statt den Paschtunen nach 25 Jahren Krieg mit den Sowjets und untereinander endlich Gerechtigkeit, Bildung und Mitgefühl zu bringen, erschienen die Amerikaner bald als weitere Besatzer. Mit der Bombardierung von Zivilisten und der Missachtung von Frauen hätten westliche Truppen den Nährboden für die Rückkehr der Taliban geschaffen. Vorwiegend leicht bewaffnet, aber gegenüber westlichen Militärs flexibel und überaus lernfähig, kämpften diese in der gewohnten Guerilla-Manier ihrer Vorfahren.

Washington versuchte derweil mit immensem Aufwand, Polizei und Armee nach westlichem Vorbild zu schaffen, statt lokale Traditionen fortzusetzen. Die Briten hatten mit eigens rekrutierten Stammes-Milizen Erfolg. Aber für derartige, alt-imperiale Modelle bestand in Washington kein Interesse. Problematisch war zudem, dass Washington nach dem Einmarsch bei der Jagd auf Bin Laden und dem Kampf gegen die Taliban zunächst direkt mit regionalen «War Lords» kooperiert hat, statt die Zentralregierung unter Karzai zu stärken, also Hilfsgelder und Waffen verteilen zu lassen. Zudem war es für den «militärisch-industriellen-politischen Komplex» in den USA naheliegender und profitabler, heimische Modelle in eine dafür absolut ungeeignete Region zu übertragen.

Ohnehin wurde spätestens unter Barack Obama deutlich, dass Afghanistan zu einem Spielball der amerikanischen Innenpolitik geworden war. Das zunehmend absurde Engagement dort diente als Beweis für die einzigartige, humanitäre Mission und Vorbildlichkeit Amerikas auf Erden. Zudem wollte der «erste Schwarze im Weissen Haus» vor dem Pentagon und der Öffentlichkeit nicht als Schwächling dastehen. Kritiker haben jedoch bereits bei dem von Obama 2009 angeordneten «Surge» erkannt, dass Amerika den Konflikt nicht allein durch Attacken auf Zivilisten, sondern auch durch Geldzahlungen an Klans und lokale Eliten am Laufen hielten, die zumindest teilweise als Schutzgelder bei den Taliban gelandet sind.

Gleichzeitig brachen unter dem Einfluss islamischer Prediger auf pakistanischen Seite langjährige Aufstände der Mahsud- und Wazir-Paschtunen gegen Islamabad aus. Für das pakistanische Militär bleibt enge Tuchfühlung zu den nun siegreichen Taliban daher eine Priorität – es gilt, die Bewegung auf Afghanistan zu begrenzen.

Das amerikanische Debakel wurzelt daher einerseits in dem Schwenk der Bush-Regierung auf Irak 2003, der zumindest den Versuch einer Befriedung und eines Wiederaufbaus als internationales Projekt untergraben hat. Der Erfolg eines solches Unterfangen muss offen bleiben. Gleichzeitig aber waren George W. Bush und Barack Obama nicht willens oder fähig die imperialen Altlasten zu versuchen – also eine Aussöhnung zwischen Afghanistan und Pakistan einschliesslich der Kaschmir-Frage. Obama hat es seinem «Afghanistan-Beauftragten» Richard Holbrook explizit untersagt, dieses Dossier anzupacken.

Zu den Ursachen des vor allem für Afghanen und ihre Nachbarn so kostspieligen Debakels dürfte letztlich aber auch das grundsätzliche Beharren der Amerikaner auf globaler Dominanz zählen. Wie Barnett Rubin als eminenter Kenner der Region jüngst im aufbau umrissen hat (Link), hat Washington bis zuletzt eine diplomatische Lösung des Afghanistan-Konfliktes mit allen Nachbarstaaten blockiert – oder zumindest nicht ernsthaft versucht. Seit dem Korea-Krieg militärisch stark genug für tiefe Eingriffe in Lateinamerika, Eurasien und Afrika, waren die USA meist zu schwach, ungeduldig oder inkompetent für bleibende Umgestaltungen – dann aber unwillig/unfähig zu diplomatischen Lösungen. Als Partner Pakistans dürfte Peking die Misere Amerikas am Hindukusch mit einer Spur von Schadenfreude beobachtet haben. Nun streckt China bereits offiziell Fühler zu dem neuen «islamischen Emirat» Afghanistan aus. Damit liegt die Gefahr auf der Hand, dass Biden seine harten Töne gegen Peking eskaliert, um diese epochale Schlappe Amerikas zumindest zu vertuschen.

In der amerikanischen Öffentlichkeit brandet derweil bis hin zur «New York Times» Selbstmitleid auf (Link): das gute Amerika hat sein Bestes versucht, aber diese Orientalen dort hinten am Hindukusch führen eben lieber Bürgerkriege und sind archaisch und korrupt, statt sich nach westlichen Vorstellungen zu «zivilisieren». Es bleibt jedoch zu hoffen, dass nun endlich ein tieferes Nachdenken über die Rolle und Macht Amerikas in der Welt einsetzt. Diese sollte ein im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg geschmiedetes Denken der Dominanz und Selbstverherrlichung hinterfragen, das allzuoft zu Blindheit gegenüber anderen Kulturen führt.

Foto:
Eine Aufnahme von «Al-Jazeera» vom 16. zeigt die Taliban im Präsidentenpalast in Kabul nachdem der afghanische Präsident aus dem Land flüchtete.

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 17. August 2021