Bildschirmfoto 2021 10 11 um 00.56.04Der weltweit renommierte Schweizer Molekularbiologe Charles Weissmann wird 90 Jahre alt – ein Gespräch über sein Lebenswerk, Forschung und Ethik

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - tachles: Sie haben sich als Molekularbiologe schon früh auf die Erforschung RNA-haltiger Viren konzentriert. Was ging in Ihnen vor, als Sie von den heutigen RNA-basierten Impfungen gegen Sars-CoV-2 hörten?

Charles Weissmann: Ich erachte es als vernünftigen Zugang, es ist einfach eine moderne Art der Vakzinierung. Wobei diese Pandemie ja relativ unerwartet kam, auch wenn man auf 1919/20 zurückblicken konnte. Aber heute hat man, im Gegensatz zu damals, natürlich eher die Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, und die Impfung ist dazu das Mittel.


Besorgt Sie die Pandemie?

Angst davor habe ich nicht. Ich bin für die Allgemeinheit eher zuversichtlich, dass wir das in den Griff bekommen – mit der Impfung und den hygienischen Massnahmen.


Sind Sie überrascht, dass so viele Leute gegenüber der Impfung skeptisch sind?

Eigentlich schon. Es ist befremdend, dass in einer Zeit, zu der Wissenschaft so weit popularisiert worden ist, die Leute immer noch mittelalterliche Einstellungen haben.


Hat es die Wissenschaft verpasst, genügend mit der Gesellschaft zu kommunizieren?

Kommunikation heisst zwar reden, aber der andere muss auch zuhören. Daran fehlt es wohl schon ein Stück weit. Und die Menschen sind gerne geneigt, von Verschwörungen auszugehen und der Wissenschaft – und hier speziell der Impfung – kritisch gegenüberzustehen. Dazu gibt es auch viel Angstmacherei.


Sie haben sich mit Interferon der Krebs-bekämpfung gewidmet. Das Medikament und Sie wurden damit weltbekannt, allerdings dann gegen Hepatitis C.

Ja, das erregte damals ziemlich Aufsehen. Interferon wurde dann nicht zum allgemeinen Heilmittel gegen Krebs, aber gegen Hepatitis. Dagegen war es eine Zeit lang das einzige wirksame Mittel; später gab es dann wirksamere Medikamente.


In Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn wurden Sie ja immer wieder mit Fragen der Ethik konfrontiert, etwa im Zusammenhang mit Tierversuchen, Gen- oder Embryonalforschung.

Ja, es gab immer Leute, die sich meiner Arbeit diesbezüglich sehr kritisch entgegenstellten. Und auch der Genforschung an sich, mit dem Argument, dass man das menschliche Genom beeinflussen und gewisse Richtungen fördern könnte. Das ist ja das Bedenkliche an dieser Forschung, und ich glaube, dass es zunehmend möglich wird, das menschliche Genom gezielt zu verändern.


Wo liegt für Sie selbst die Grenze?

Hätte man heute ein genetisches Verfahren, um die Menschheit vor Krebs zu schützen, wäre das sicher ein eminent ethisch positiver Sachverhalt. Wenn man aber beispielsweise auf diese Art tapfere Krieger «züchten» würde, wäre das natürlich negativ. Das Problem liegt wohl darin, dass man das eine nicht vollständig vom anderen trennen kann: Wenn das Positive möglich wird, wird auch das Negative möglich. Aber sollte man deswegen die ganze entsprechende Forschung unterbinden? Meine Antwort darauf ist: nein. Man sollte aber nach Möglichkeit kontrollieren, was dann effektiv ausgeführt wird.


Und wer soll die Grenzen festlegen?

Am besten eine Kommission, an der sowohl Wissenschaftler wie Ethiker beteiligt sind. Das hat schon beim Aufkommen der Gentechnik funktioniert, indem eine weltweit zusammengesetzte Kommission diskutierte, was gemacht werden dürfte und was nicht. Daraus entstanden gewisse Regeln und Normen, die sich heute recht gut eingespielt haben.


Macht Ihnen die Verpolitisierung der Wissenschaft Sorgen?

Das ist eine neuere Tendenz, und ich finde sie belastend.


1999 sind Sie nach Ihrer Emeritierung in Zürich nach Florida gegangen und haben ein neues Institut gegründet. Wäre dies in der Schweiz nicht möglich gewesen?

In der Schweiz wurde ich mit 67 Jahren pensioniert. Ich wurde sodann 1999 an das University College in London und 2004 an das Scripps-Institut in Florida berufen, wo ich bis 2012 wirkte.


Was war Ihre Hauptvision als Forscher?

Stets das Interesse an der Grundlagenforschung – wie funktioniert etwas, wie kann man es beeinflussen? Bei der Interferon-Entwicklung spielte auch etwas Zufall mit, es ergab sich im Laufe der Forschung der Naturvorgänge, die ich mit dem Ziel der Erkenntnis, der Erweiterung unseres Wissens betrieb. Man hat ja heute ein ganz anderes Verständnis der Dinge als noch zu meiner Studentenzeit – das ist eine ganz andere Welt.


Sie haben sich in Israel stark für Wissenschaft engagiert und 2016 einen Lehrstuhl am Technion gestiftet. Wäre es für Sie je eine Option gewesen, nach Israel auszuwandern?

Ja, damals, als ich in New York arbeitete, war ich mit David Ginsburg in Haifa gut bekannt. Er machte mir einmal ein halbherziges Angebot, vorerst als Gast ans Technion zu kommen und herauszufinden, wie man miteinander zurechtkomme. Wenn es gut funktioniere, könnte ich danach vielleicht eine Professur haben. Aber das war alles sehr vage, und ich erhielt dann das Angebot einer Professur in Zürich. Diesem Ruf bin ich gefolgt, nicht nur wegen der Professur, aber wegen meiner Herkunft und meiner hier lebenden Eltern, die doch schon alt waren. Ich habe es nie bereut, nach Zürich zurückgekehrt zu sein.


Sie haben wissenschaftliche Beziehungen zu Israel gepflegt. War das Teil Ihrer Biografie oder der wissenschaftlichen Kompetenz Israels geschuldet?

Das war wissenschaftlich begründet. Israel war in meinem Forschungsbereich stark.


Sie haben in der Schweiz an der Uni Zürich bereits einen Lehrstuhl gestiftet.

Ja. Ich habe auch an der Uni Zürich, zu der ich eine sehr starke Bindung habe, einen Lehrstuhl gestiftet, zu Ehren von Ernst Hadorn, meinem damaligen Lehrer in Zoologie. Aber für Israel habe ich auch spezielle Gefühle. Der Entscheid basiert also sowohl auf wissenschaftlichen wie emotionellen Grundlagen.


Besteht für Sie eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Glauben, bedeutet Ihnen Religion etwas?

Für mich war Religion eine Formsache, ich bin kein tief gläubiger Jude. Jüdisch bewusst, jüdische Kultur und Tradition bedeuten mir durchaus etwas. Aber nicht religiös bewusst. Der Glaube hat in meinem Leben keine große Rolle gespielt.


Ist es für Sie trotzdem nachvollziehbar, dass es etliche Wissenschaftler gibt, die gläubig sind?

Ich sehe da eine gewisse Zwiespältigkeit. Aber wenn man religiös erzogen worden ist, dürfte es schwierig sein, dies vollständig abzulegen, und dann bleibt eben der Zwiespalt. Man interpretiert die Welt nach wissenschaftlichen Regeln, gleichzeitig aber bringt man seinen Glauben mit.


Wie kann ein Forscher überhaupt aufhören zu forschen, wenn er sich pensionieren lässt – war das schwierig für Sie?

Etwa so wie für einen Athleten, mit dem Rennen aufzuhören. Aber es kommt der Moment, wo bei ihm die Muskeln und Gelenke nicht mehr mitmachen. Und die Fähigkeiten des Gehirns nehmen mit dem Alter auch ab, das ist keine Frage. Ich habe mit der Forschung abgeschlossen.


Sie waren nicht nur ein sehr engagierter Wissenschaftler, sondern sind auch ein begeisterter Kunstsammler. Unter anderem besitzen Sie Werke von René Magritte. Reizte er den Wissenschaftler in Ihnen oder den Kunstsammler?

Das beruht auf einer Affinität zu Magrittes Kunst, die sehr fantasievoll ist und inhaltlich zumeist einen inneren Sinn oder etwas Widersprüchliches hat, wie etwa eine Wolke, die mit einem Stein kollidiert. Das ist ein Humor, der mir zusagt, ein Gegensatz zur Vernunft. Das Surrealistische darin zieht mich an. Seine Kunst allerdings hat immer einen Hintergrundgedanken. Das ist spannend.


Und was fasziniert Sie an Francis Bacon, der ja prominent in Ihrer Sammlung hängt?

Das Fleischliche am menschlichen Körper. Ich bin sehr früh auf Bacon gekommen, aber seine Bilder waren damals schon so teuer, dass es eine Weile dauerte, bis ich mir das erste leisten konnte.


Sie haben eine enorme Zahl an Ehrungen und Auszeichnungen erhalten, wenn auch nicht den Nobelpreis. Ist dieser für einen Forscher wichtig?

Er ist sicher im Sinne von Anerkennung der Leistung wichtig. Und keiner von uns ist dem gegenüber immun. Man kann hier aber sagen: Alle, die ihn erhalten haben, haben ihn verdient, aber nicht alle, die ihn verdient hätten, haben ihn erhalten.


Sie waren dafür mehrmals im Gespräch, es hat sich dann aber leider nie verwirklicht. Wie haben Sie das empfunden?

Das kommt vor, und damit muss man leben können.


Foto:
Molekularbiologe Charles Weissmann blickt auf ein Leben voller Erfolge und Erkenntnisse
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 8. Oktober  2021