Der FallEin Sexmaniak, die BILD-Zeitung und zahlreiche Verdächtige

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der ehemalige BILD-Chefredakteur Julian Reichelt machte auf mehrere Weise von sich reden.

Er verordnete seinem Blatt eine noch aggressivere populistische Linie. Und er verlangte von nachgeordneten Mitarbeiterinnen sexuelle Gefügigkeit. Letzteres wurde bereits seit längerer Zeit vermutet. Jetzt wollte ein journalistisches Rechercheteam die Ergebnisse seiner Nachforschungen in der „Frankfurter Rundschau“ offenlegen. Doch ausgerechnet deren Verleger, Dirk Ippen, ließ das nicht zu. Angeblich wollte die Ippen-Gruppe, zu der mehrere große Regionalzeitungen wie die erwähnte FR, die Offenbach-Post und die Hessische / Niedersächsische Allgemeine zählen, dem Mitbewerber Springer nicht zu nahe treten. Das mag glauben, wer glauben will. Jedenfalls gibt es auch andere Interpretationen. Doch ich beginne mit der Sache, die alles ins Rollen brachte.

Die gesellschaftliche Auseinandersetzung über sexuellen Machtmissbrauch am Arbeitsplatz wird bislang nur knapp oberhalb der Öffentlichkeitsschwelle geführt. Es scheint so, als scheuten die Opfer eindeutige Reaktionen, nämlich die unverzügliche Meldung eines Vergehens. Ja, als hätten sie sogar Angst davor, durch eine Offenlegung das gesamtgesellschaftliche Miteinander, speziell die vermeintlichen Rollen von Frauen und Männern, ins Wanken zu bringen. Das Verhalten des BILD-Sexmaniaks Julian Reichelt, das vom Ippen-Investigativ-Team recherchiert und dokumentiert wurde, fügt sich in diese Klischees, weil er mit dem Verhalten der von ihm bedrängten Frauen fest gerechnet hat. Deswegen verwundert der verklemmte Umgang mit solchen Straftaten nicht. Die Verkrampfung würde mutmaßlich noch zunehmen, wenn lediglich Debatten nach #MeToo-Muster entstünden.

Typischerweise ist diese Bewegung in den USA entstanden. Dort, wo die puritanische Prüderie samt deren Scheinheiligkeit zum Selbstverständnis einer Nation zu gehören scheint und Übergriffe vielfach verschwiegen werden. Denn die Täter sind vor allem Vorgesetzte, aber auch Ehemänner oder einflussreiche Freunde, die mit übernatürlicher Autorität ausgestattet scheinen und darum nicht angeschuldigt werden dürfen. Da bleiben als Ausweg lediglich PR-Kampagnen übrig, die viele Jahre nach den Vorfällen von Prominenten inszeniert werden. Manche der Initiatorinnen erwecken den Eindruck, dass sie sich nach Schlagzeilen sehnen, weil sie solche längere Zeit entbehren mussten.

Auf der Frankfurter Buchmesse äußerte sich dazu auch die diesjährige Trägerin des Deutschen Buchpreises, Antje Rávik Strubel. Das Thema ihres Romans „Blaue Frau“, der sehr konstruiert wirkt und mit sprachlichen Manierismen durchsetzt ist, sind die Folgen einer Vergewaltigung. Es sei erschreckend, so die Autorin, wie wenige Fälle überhaupt zur Anzeige kämen. Noch viel seltener würden die Täter verurteilt. Ein Grund dafür sei, dass den Frauen nicht geglaubt werde.
Soweit ich die Tatsachenlage übersehen kann, gewinne ich einen anderen Eindruck. Zu viele Frauen stellen offenbar keine Strafanträge. Ohne solche kann nicht ermittelt werden. Ob bei den vergleichsweise wenigen Anzeigen die Frauen als nicht glaubwürdig erschienen waren, weil sie Frauen sind, erschließt sich mir nicht. Ich kann mir allenfalls vorstellen, dass Beweise nicht gesichert wurden. Beispielsweise medizinische Untersuchungen nicht rechtzeitig durchgeführt wurden und auch verspätet vorgenommene kriminaltechnische Erhebungen erfolglos verliefen. Nach Meinung von Frau Rávik Strubel läge die geringe Verurteilungsquote auch daran, dass die Opfer vor Gericht erscheinen müssten. Diese Korrelation überzeugt mich nicht. Ich halte die Behauptung sogar für schlecht recherchiert.

Es ist höchste Zeit, dass sexueller Machtmissbrauch als elementarer Eingriff in Persönlichkeitsrechte empfunden wird und bei den Betroffenen zu unverzüglichen und klaren Reaktionen führt. #MeToo-artige Kampagnen hingegen können lediglich den Boulevardmedien zu Schlagzeilen verhelfen.

Nachdem dies zur Transparenz der ursprünglichen Sache geschrieben ist, möchte ich den Blick abschließend auf das Verhalten von Verleger Dirk Ippen lenken. In seiner Gruppe, dem fünftgrößten, stark aufgefächerten deutschen Zeitungskonzern, gibt es erfolgreiche und weniger erfolgreiche Blätter. Innerhalb der „Zeitungsholding Hessen“ zählt die Hessische / Niedersächsische Allgemeine (HNA) in Kassel samt Kopfblättern mit einer verbreiteten Auflage von ca. 220.000 Exemplaren zu den Erfolgreichen. Die Mediengruppe Frankfurt, der die „Frankfurter Rundschau“, die „Frankfurter Neue Presse“ nebst Kopfblättern sowie Anzeigenblätter und Portale angehören, kommt im Rahmen der Vermarktungsgesellschaft Rhein-Main Media lediglich auf ca. 170.000 verkaufte Exemplare.
Diese Gesellschaft besteht aus der Mediengruppe Frankfurt, den Sozietäts-Medien (Buchverlag und Offenbach Post, ebenfalls zu Ippen gehörend) sowie den FAZ-Anzeigenmedien. Das ist in einer der kaufkräftigsten Regionen Deutschlands nicht sehr viel. Auch wenn man zugestehen muss, dass in Frankfurt der Platzhirsch „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ansässig ist.

Innerhalb der Interessensverbände, insbesondere im „Verband Digitalpublisher und Zeitungsverleger BDZV“, wird seit drei Jahren gemunkelt, dass der Mediengruppe Frankfurt und den Societäts-Medien ein echtes Boulevardblatt mit größerem Anzeigenvolumen fehle. Präsident des BDZV ist Springer-Chef Mathias Döpfner. Und hier könnte sich der Kreis schließen. Dirk Ippen war das berufliche Überleben von BILD-Chefredakteur Julian Reichelt mutmaßlich gleichgültig. Es galt Rücksicht zu nehmen auf Mathias Döpfner, mit dem man noch einige geplante Vorhaben realisieren könnte.

Ich gestatte mir zum Schluss noch eine Nachbemerkung zu Antje Rávik Strubel, die auf der Eröffnungsfeier der Frankfurter Buchmesse eine Lanze für das sogenannte Gendern brach. Sie hält das generische Maskulinum nicht für eine sprachgeschichtliche Errungenschaft im Sinn von Abstraktions- und allgemeiner Aussagefähigkeit, sondern für eine Normalität, die nur deshalb normal sei, weil sie da sei, und nicht, weil sie gut sei. Sie geht sogar noch einen Schritt weiter und beschreibt eine von unbelehrbaren Männern heraufbeschworene Gefahr: „Gefährlich wird es bei denen, die das Ende ihrer jahrhundertealten Meinungshoheit zum Ende der Meinungsfreiheit erklären.“

Auf solch eine Weise kann man Grammatik, Stil und Rechtschreibung der deutschen Sprache in die Tonne klopfen. Und dabei gleichzeitig stilistische Schwächen am Roman „Blaue Frau“ kleinreden. Solche ziehen sich seitenweise durch das Buch (was weder für das Verlagslektorat noch für die Jury spricht). Etwa wenn sie schreibt „Der Sendemast ist der einzige Orientierungspunkt in den identischen Straßen“. Straßen, auch Häuser, mögen gleichförmig sein. Aber nach aller Erfahrung sind sie nicht identisch, allein, weil es zwei, drei oder viele Straßen sind.
Oder „Theater kann sie sich nicht leisten. Wer eine Aussage macht, muss präzise sein.“ Theater hat nach ihrer Überzeugung anscheinend nichts mit Genauigkeit und Klarheit zu tun und taugt nicht für eindeutige Aussagen.

Eine solche Präzision hätte ich mir gewünscht bei der Passage: „Und die Männer werden ahnen, wen sie vor sich haben. Ihre Hände in den Handschellen werden anfangen zu zittern. Und die Geschworenen erheben sich. Der Saal wird verstummen, wenn die Geschworenen rufen: Welchen sollen wir töten? Es wird still werden vor Gericht, wenn man fragt, wer wohl sterben muss. Und sie wird sagen: alle.“ Das ist eindeutig eine Anspielung auf Brechts „Seeräuber-Jenny“ in der Dreigroschenoper. Talentierte Schriftsteller (Frauen und Männer) erwähnen so etwas in einem kunstvoll eingeflochtenen Nebensatz. Doch diese Kunstlosigkeit ist Bestandteil von Rávik Strubels „Blaue Frau“. Und sie findet ihre Fortsetzung in Mutmaßungen über die Hilflosigkeit der deutschen Rechtspflege bei der Ahndung von Gewaltverbrechen an Frauen.

Foto:
Der Fall
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