de.wikipediaeuropaDAS JÜDISCHE LOGBUCH Ende März

Yves Kugelmann

Wien /Weltexpresso) - Gibt es Europa? Geographisch betrachtet ist Europa ein Subkontinent. Mehr Idee als Kontinent. Historisch belastet, politisch oft lasch, gesellschaftlich immer wieder ermüdet. Europa wuchs jeweils an den Herausforderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, im Kalten Krieg, nach der Wende von 1989 und den diversen Krisen der letzten zwei Jahrzehnte. Europa und darin die Europäische Union sind letztlich Konstruktionen, die sich zwischen einer Werteskala und gelebten politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Realitäten, zwischen Idee und historischen Wendepunkten immer wieder finden mussten. Der 24. Februar ist mit der russischen Invasion in der Ukraine wieder so ein Wendepunkt.

Europas Zivilgesellschaft bewältigt den Flüchtlingsstrom aus der Ukraine seit Ausbruch des Krieges. Noch vor den Regierungen haben die Bürgerinnen und Bürger von Europa gehandelt, nicht gezaudert und geholfen. An vorderster Stelle auch die jüdischen Gemeinschaften. Humanismus als Reflex, Menschlichkeit statt Bürokratie, Solidarität und Empathie mit Mitmenschen als Antwort auf Kriegsverbrechen, Despotismus und rückwärtsgerichteten Wahnsinn. Viele Fragen werden in den kommenden Wochen zu beantworten, viele anstehende Herausforderungen werden zu lösen und Debatten zu führen sein. Wie können die Millionen von flüchtenden Menschen teilhaben an einer Zukunft in Europa.

Die letzten Jahre waren dominiert von Rechtsrutsch, zunehmendem Rassismus, Antisemitismus, globalen Herausforderungen gespaltener Gesellschaften, denen die so wichtige politische Mitte und damit der Ort des gesellschaftlichen Konsens abhanden gekommen ist. Der Schock des Kriegs unmittelbar nach dem Schock der Pandemie überlagert diese Entwicklungen, die bald wieder sichtbar werden dürften. Wo liegt also dieses Europa? In diesen Wochen zeigt sich Europa von seiner besten Seite. Doch als jene Flüchtlinge anklopften, die vor Putins chemischen Bomben etwa in Aleppo flüchteten, reagierten die Menschen und Regierungen in Europa gespalten. Ein unwürdiger rassistischer Diskurs überlagerte die Politik der letzten Jahre, der Demokratieindex in verschiedenen europäischen Staaten sank.

Eine Phase, in der auch immer wieder die Frage zu Recht oder Unrecht gestellt wurde, ob die jüdischen Gemeinschaften Europas eine Zukunft haben. Wenige getrauten sich, ein klares Ja hinauszuschreien. Europa liegt nicht in den Schützengräben der Weltgeschichte, sondern in den Verfassungen und Konstitutionen der Mitgliedsstaaten. Europa liegt dort, wo heute geholfen wird. Europa kann nur dort liegen, wo Menschen in Not geholfen wird. Denn Europa hat kausal und historisch zu oft damit zu tun. Daher dürfen die Krisen und Kriege von Jemen bis Somalia mit ihren humanitären Katastrophen gerade auch in diesen Tagen nicht vergessen gehen. Ebenso wenig die Tausenden von Flüchtlingen, die seit Jahren in Griechenland, der Türkei und anderen Ländern ausharren und auf eine Zukunft hoffen.

Die Idee Europa erhält durch diesen Angriffskrieg Putins neue Fulminanz. Die ersten Reaktionen gegen den Despotismus sind überzeugend. Jetzt kommt es auf die zweiten und dritten Reaktionen an, wenn es die Frage zu beantworten gilt, wo Europa liegt. Denn eigentlich lautet sie: Was ist Europa? Das werden nicht die USA, nicht China, nicht Russland beantworten können, sondern nur die Europäer selbst.

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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 25. März 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.