Bildschirmfoto 2022 04 05 um 04.46.43Plädoyer für ein Moratorium

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wir haben keine Wahl und wir haben keine Zeit.

Mit dem Massaker von Butscha ist der Würfel endgültig gefallen. Und damit die einzig mögliche Entscheidung. Die demokratischen Staaten des Westens müssen den sprichwörtlichen Rubikon überschreiten: Kein Gas und kein Öl aus Russland! Sofort Kampfflugzeuge, Raketen und Panzer für die Ukraine! In spätestens sechs Wochen muss der Krieg mit der Kapitulation des Aggressors enden.

Als Wladimir Putin seinen widerrechtlichen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar begann, drohte er den westlichen Ländern, insbesondere den NATO-Staaten, Fürchterliches an, falls diese sich einmischen sollten. Unsere Politiker haben die Drohung heruntergeschluckt, haben sich allenfalls dabei etwas geschüttelt. Und vermutlich an die intensiven Handelsbeziehungen gedacht, die nicht gefährdet werden sollten. Insbesondere den Bezug preiswerten Gases galt es sicherzustellen.

Doch drei Tage danach, am 27. Februar, einem Sonntag, sprach Bundeskanzler Olaf Scholz unter dem Druck der öffentlichen Meinung im Bundestag und kündigte eine Zeitenwende an. Neben einschneidenden wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland avisierte er Waffenlieferungen an die Ukraine und deutlich höhere Ausgaben für die eigene Landesverteidigung. Am Einkauf von Erdgas, Erdöl und Mineralien aus Russland sollte sich zumindest einstweilen nichts ändern. Die deutsche Wirtschaft, die sich mit alternativen Energien schwertut, sollte geschont werden. Selbst die Klimaveränderung mit ihren absehbaren Folgen auch für die ökonomischen Strukturen führte in den zurückliegenden Jahren nur dann zu einer Neubesinnung, wenn Aussicht auf lukrative Geschäfte bestand. Windräder und Solaranlagen gehören zwar mittlerweile zu den akzeptierten Energieträgern, aber so richtig angekommen sind sie noch nicht.

Doch es ist höchste Zeit, sich an eine technische Erfindung zu erinnern, die bereits vor über 70 Jahren zu neuen Hoffnungen bezüglich Energieproduktion und Energieverwendung berechtigte. Ich meine die Brennstoffzelle, die mit Wasserstoff betrieben wird. Der Physiker Eduard Justi hatte 1950 die bereits seit 1838 (!) laufenden internationalen Forschungen zusammengeführt und ein überzeugendes Ergebnis präsentiert, den ersten mit Wasserstoff betriebenen Antrieb. Es waren die Multis der Ölindustrie, die ihre Interessen bedroht sahen und vor allem die Automobilindustrie zur Zurückhaltung veranlassten.

Wer den richtigen Zeitpunkt zum Systemwechsel versäumt, den bestrafen neue Realitäten. Mit Brennstoffzelle und grünem Wasserstoff kann man zwar mittlerweile niemanden mehr schocken, aber sie verharren dennoch vor einer Wand aus Bedenkenträgern. Unter dem Eindruck eines Gaslieferstopps, egal von welcher Seite veranlasst, könnte sich das jetzt sehr schnell und mit Langzeitfolgen ändern. Zweifellos würde ein Gasstopp die produzierende Wirtschaft treffen. Zumindest dann, wenn er länger andauerte. Deswegen ist keine Zeit zu verlieren.

Aber aktuell steht noch sehr viel mehr auf dem Spiel. Nämlich das Leben der Menschen in der Ukraine. Die zerbombten und zerschossenen Wohnhäuser in den Städten der Ostukraine und am Rand von Kiew dokumentieren, dass dieser Krieg nicht zuletzt gegen die Zivilbevölkerung geführt wird. Und darum muss ein Moratorium erwogen und unverzüglich durchgesetzt werden. Stoppen wir den Gas- und Ölimport aus Russland so lange, bis das Putin-Regime besiegt ist. Falls es gelingt, die notwendigen Waffen den ukrainischen Verteidigern zur Verfügung zu stellen, könnte das in sechs Wochen geschafft sein. Notfalls müssen NATO-Staaten dazu bereit sein, komplexe Waffensysteme samt Besatzungen an die Ukraine auszuleihen. Denn für die russische Seite ist das halbherzige Verhandeln der Unterhändler nur der Versuch, Zeit zu gewinnen. Zeit für Truppenverschiebungen, für die Besorgung von Waffen, für das Anwerben von ausländischen Söldnern. Aus den Vernichtungskriegen, die Putin bislang geführt hat, etwa in Tschetschenien (Grosny) oder in Syrien (Aleppo) , lässt sich diese Strategie genau erkennen.

Auch das Massaker, das sich jetzt in Butscha offenbart hat, ist kein singuläres Ereignis. Söldner, aber auch auf Brutalität dressierte Wehrpflichtige der russischen Armee sind gnadenlos gegenüber der Zivilbevölkerung. Diese Kriegsverbrechen sind Teil eines in Kauf genommenen Genozids. Damit muss es ein Ende haben.
Was sich in der Ukraine ereignet, ist ein Krieg der Systeme. Mit dem russischen System ist kein Ausgleich möglich, kann kein Friedensvertrag abgeschlossen werden, der diesen Namen verdient. Und Putin und seine Kamarilla scheiden als Verhandlungspartner aus. US-Präsident Joe Biden hat das richtig erkannt.

Foto:
Zerstörtes Wohngebiet in der Nähe von Kiew
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