Schock und Empörung über geleaktes Urteil

Der Entwurf von Verfassungsrichter Samuel Alito zur Abschaffung des Rechtes auf Abtreibung könnte der Beginn einer Welle von Entscheidungen gegen liberale Errungenschaften sein

Andreas Mink

New York (Weltexpresso) - Das Leak eines Urteils-Entwurfes von Verfassungsrichter Samuel Alito zur Aufhebung der Entscheidung «Roe v. Wade» aus dem Jahr 1973 ist von historischer Tragweite. Der Politico-Reporter Josh Gerstein hat eine Kopie des Manuskripts vom Februar in der Nacht zum Dienstag publiziert und damit den Krieg in der Ukraine oder die laufenden Vorwahlen für die Kongress-Rennen im November aus den Schlagzeilen vertrieben.

Seit einem halben Jahrhundert waren Christlich-Konservative gegen das durch «Roe» geschaffene Recht auf Abtreibung Sturm gelaufen – dies angesichts zunehmender Zustimmung der Bevölkerung für die damit geschaffenen Hoheit von Frauen über die Gestaltung ihrer Existenz und Familien lange ohne Hoffnung auf Erfolg.

Doch in den letzten Jahren wurde der Kampf gegen Roe zunehmend zu einem Sammelruf für die von Trump angeheizte Aushärtung und Konsolidierung einer evangelikal-autoritären Spielart des amerikanischen Konservatismus. So lesen zahlreiche Experten wie der Harvard-Jurist Laurence Tribe aus Alitos Text eine Kampfansage nicht allein gegen das Recht auf Abtreibung, sondern auch auf Verhütungsmittel, die gleichgeschlechtliche Ehe oder die Aufhebung der Rassentrennung an Schulen (Link).

Dass Alito bei seiner doktrinären Behauptung, Roe sei «nicht tief im amerikanischen Recht verwurzelt» gewesen, auf englische Juristen des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit baut, die für die Hinrichtung von Hexen plädiert und ein männliches Recht auf Vergewaltigung in der Ehe erkannt haben (Link), lässt sein Urteil keineswegs als letztes, sondern eher als Auftakt-Kapitel einer radikalen, religiösen Attacke auf die liberale Gesellschaftsordnung Amerikas erscheinen. Die Aussicht auf ein Dasein unter einer christlich-autoritären Ordnung ohne «Trennmauer zwischen Kirche und Staat» muss gerade für religiöse Minderheiten wie die jüdisch-amerikanische erschreckend sein.

Dies macht den Schock und die aufbrandenden Proteste quer durch die Strömungen von Reform bis Orthodoxie verständlich, über die Publikationen wie der «Forward» nun berichten (Link). Daneben heizt das Leak eine Vertrauenskrise der Öffentlichkeit das Verfassungsgericht betreffend an. Der Supreme Court erscheint nunmehr endgültig als politisiert und Instrument einer wohlorganisierten und planvoll agierenden Rechten, die eben keineswegs auch nur eine starke Minderheit der Nation repräsentiert. Denn laut Umfragen befürworten über zwei Drittel der Amerikaner das Recht auf Abtreibung und selbst unter Gegnern hat die nun in Gliedstaaten wie Alabama, Mississippi oder Texas vorangebrachte, totale Kriminalisierung von Abtreibungen ohne jede Ausnahme selbst bei tödlichen Gefahren für werdende Mütter keine Mehrheit. Aber natürlich signalisiert das Leak auch eine Vertrauenskrise innerhalb des Gerichtes.

Jenseits dieser Wehklagen dürften Demokraten und die noch verbleibenden, liberalen Republikaner allerdings enorme Probleme haben, die Bürgerhaltung in Politik umzusetzen: Barack Obama hat 2012 auf eine gesetzliche Verankerung von Roe bei demokratischen Kongressmehrheiten verzichtet. Heute steuert Joe Biden mit schwachen Mehrheiten auf eine Wahlniederlage im November und den völligen Verlust seiner Gestaltungsmöglichkeiten zu. Ob die Empörung über Alitos Urteil zur Mobilisierung der zerstrittenen und demotivierten Demokraten ausreicht, ist mehr als fraglich. Waren unerwünschte Schwangerschaften um 1970 noch ein Problem für gebildete Weisse, so suchen heute vorwiegend arme, junge und alleinstehende schwarze Frauen nach Abtreibungen, die bereits ein oder mehr Kinder haben. Diese Bürgerinnen nehmen eher selten an Wahlen teil – und die Mehrheit der linksliberalen Basis hat am Ende der Tage doch andere Probleme wie Inflation oder Studienschulden und fühlt sich oft von Biden und seiner Partei im Stich gelassen.

Foto:
Verfassungsrichter Samuel Alito
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 4. Mai 2022