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Kategorie: Zeitgeschehen
1636447854754gunter demnig bei der verlegung eines stolpersteins 100 v 16x92dXL 77ed5d09bafd4e3cf6a5a0264e5e16ea35f14925Stolperstein-Verlegung in Frankfurt neben der Alten Oper im Mai

Yves Kugelmann

Frankfurt am Main (Weltexpresso)  - Ist der Normalzustand Krieg oder Frieden? Stolperstein-Verlegung in Frankfurt neben der Alten Oper. Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig erinnert an jüdische Biografien von Vertreibung, Flucht und Verfolgung. An diesem Dienstag werden in Frankfurt 73 Stolpersteine verlegt. 73 Geschichten über Deportation, Emigration, Genozid von Menschen und Familien. Die wenigsten haben überlebt.

77 Jahre nach Kriegsende sind Gesellschaft, Institutionen und Angehörige täglich mit der Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen mit Recherche, Sichtung von Akten, Archiven befasst. Die zeitliche Parallelität in diesen Tagen mit dem Krieg in der Ukraine stellt die Aufarbeitung der Vergangenheit auf eine besondere Weise in Frage: Hat all das Sinn ergeben und wenn ja – für wen?

77 Jahre nach der erzwungenen Kapitulation Deutschlands und dem Sieg der Alliierten werden in Europa Menschen deportiert. Medien berichten von massenhaften Deportationen ukrainischer Zivilisten in russische Straf- und Filtrationslager. Den Menschen sollen Heimat, Erinnerung und Identität genommen werden. Viele werden nie wieder aus den Lagern zurückkehren, Folter und Verbrechen gegen die Menschheit nicht überleben. Auf einmal ist Stalins barbarisches Russland wieder allgegenwärtig. Was folgt sind Mord, Verlust, zerrissene Familien, Menschenrechtsverletzungen und Jahrzehnte der Aufarbeitung. Krieg ist nie der Normalzustand einer Gesellschaft, sondern das Versagen einer internationalen Gemeinschaft der Moderne. Krieg ist das Versagen der Diplomatie und der Demokratie. Dieser Krieg ist jener Putins – und alle wissen: er hätte verhindert werden können und müssen.

Täglich werden nun die tragischen Geschichten von Mord und Totschlag geschrieben. Morgen, Übermorgen, in den nächsten Generationen werden sie aufgearbeitet werden müssen. Erinnerungskulturen werden mit der Barbarei und dem Verlust zurechtkommen müssen, Mahnmale errichtet und Traumata aufgearbeitet werden. Ist der Normalzustand Krieg oder Frieden? Leo Tolstoi beschreibt in «Krieg und Frieden», wie das zaristische feudale Russland auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zurast, und zeichnet neben der russischen Hoch- eben auch eine Kriegskultur nach, die nach dem Fall der Sowjetunion längst nicht der Vergangenheit angehört: «Freund, mein getreuer Sklave, wie Sie sagen, wenn Sie noch ferner die Notwendigkeit des Krieges leugnen und noch länger die Greuel verteidigen wollen, welche dieser Antichrist begeht, denn es ist der Antichrist selbst, davon bin ich überzeugt. Setzen Sie sich.» Krieg wird nie der Normalzustand der Menschheit sein, auch wenn der Frieden abwesend ist. Krieg ist überall, und doch ist er in der Moderne mit Verfassungen, internationalen Vereinbarungen, der zusammengewachsenen Welt – so uneins sie auch ist – nicht Ausgangspunkt, sondern das geworden, was es immer zu verhindern gibt. Auch wenn die Ohnmacht der Gegenwart, der neue Gulag, die Strafkolonien und die Barbarei zurück sind.

Foto:
Stolperstein-Erfinder Gunter Demnig
©swr.de
 
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 13. Mai 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.