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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2022 12 02 um 02.35.06Über Fritz Bauers Wirken als politischer Mensch, Radiobeitrag vor 29 Jahren

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Unser Autor Kurt Nelhiebel, 95 Jahre, ist wohl der letzte noch lebende Journalist, der über die Auschwitzprozesse 1963-1965 berichtet hat und einer der wenigen, die Kurt Bauer noch persönlich gekannt hat. Gut ein Jahr nach seinem Beitrag wurde in Frankfurt am Main das Fritz Bauer Institut gegründet, Ideengeber und Gründungsdirektor dieser wissenschaftlichen Aufarbeitungsstätte des Holocaust war bis September 2000 Hanno Loewy, der mit dem Namen Fritz Bauer ausdrücken wollte, wem und welchen Ideen das Institut verpflichtet wäre. Die Redaktion

Obwohl der am 30. Juni 1968 verstorbene hessische Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer als Initiator des Auschwitzprozesses zu den herausragenden Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört, lassen sich Daten über sein Leben nicht ohne weiteres finden. Nachschlagewerke wie das Neue Taschenlexikon des Bertelsmann-Verlages, das Kleine Lexikon der Deutschen Büchergilde, die Chronik des 20. Jahrhunderts oder das Duden-Lexikon, halten zwar den oberbayerischen Erzähler Josef Martin Bauer und den Erfinder des ersten Unterseebootes Wilhelm Sebastian Valentin Bauer für erwähnenswert, nicht aber den ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer.

Woran mag das liegen? Dass Fritz Bauer das Jahrhundertverfahren gegen Verantwortliche des Massenmordes von Auschwitz in Gang gesetzt hat, kann schwerlich der Grund dafür sein. Ganz im Gegenteil - das allein müsste ihm einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern. Nein, die Ursachen liegen woanders, nämlich im politischen Wirken dieses ungewöhnlichen Mannes, der ungeachtet seiner hohen Stellung im Staatsdienst immer dann seine Stimme erhob, wenn er die Bürgerrechte durch ausufernde staatliche Macht in Gefahr sah. Davon soll hier die Rede sein und von der Art und Weise, in der dieser leidenschaftliche Demokrat und unbequeme Mahner mundtot gemacht werden sollte.

Fritz Bauer, der mit 65Jahren unter ungeklärten Umständen starb, hat Freunden gegenüber kein Hehl daraus gemacht, wie tief ihn manche Verleumdung getroffen hat, wie verzweifelt er deswegen oft war und wie einsam er sich fühlte. Die Verfolgungen während der Nazizeit hatten ihn verletzbar gemacht. Der begabte Jurist war gleich nach der Machtübernahme durch Hitler aus dem Amt gejagt und in ein Konzentrationslager gesperrt worden. Nach Ansicht der neuen Herren hatte der jüngste Amtsrichter Deutschlands einen doppelten Makel - er war Sozialdemokrat und er stammte aus einer assimilierten jüdischen Familie. Bauer wurde zunächst in dem KZ auf dem schwäbischen Heuberg und anschließend  in der Ulmer Strafanstalt gefangen gehalten. Um weiterer Verfolgung zu entgehen, floh er 1936 aus Deutschland zunächst nach Dänemark und später nach Schweden, wo ihm Asyl gewährte wurde.

Nachdem 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden war, kehrte der Vertriebene in die Heimat zurück. Rasch machte er sich einen Namen als Vorkämpfer für eine Reform des Strafrechts und des Strafvollzugs. Seinen ersten größeren Konflikt handelte Fritz Bauer sich 1960 als hessischer Generalstaatsanwalt ein, als er ein strafrechtliches Vorermittlungsverfahren gegen den Staatssekretär im Bundeskanzleramt und Vertrauten Konrad Adenauers, Dr. Hans Globke, einleitete. Dessen frühere Tätigkeit als Spezialist für Judenfragen im Nazi-Reichsinnenministerium war während des Prozesses der Israelis gegen den Beauftragten für die »Endlösung der Judenfrage«, Adolf Eichmann, wieder einmal ins Blickfeld gerückt.

Ohne auf Globkes eventuelle Mitschuld an der Judenverfolgung einzugehen - immerhin war er Mitverfasser des offiziellen juristischen Kommentars zur Umsetzung der Rassegesetze in die Praxis – warfen die Kritiker dem Generalstaatsanwalt Amtsmissbrauch und Politisierung der Justiz vor. Als ob das nicht reichte, verdächtigten sie ihn obendrein der Komplizenschaft mit den Kommunisten. Wie es denn zu erklären sei, fragten sie öffentlich, dass die Presse der Ostzone das Aktenzeichen des Globke-Verfahrens eher gekannt habe als die Zeitungen der Bundesrepublik; offensichtlich gebe es da Querverbindungen.

In die Nähe der Kommunisten gerückt zu werden, war schon für einen normal Sterblichen existenzbedrohend, geschweige denn für einen Mann in exponierter Position. Ein amtierender Generalstaatsanwalt im Bunde mit dem politischen Erzfeind hinter dem Eisernen Vorhang – für die meisten ein unerträglicher Gedanke. Doch nichts an dem schäbigen Verdacht stimmte. In Wirklichkeit war das Aktenzeichen des Verfahrens nicht von der DDR-Presse erstmals veröffentlicht worden, sondern vier Monate davor vom SPD-nahen  »Hamburger Echo«. Aber die Schmutzwerfer hatten ihr Ziel erreicht. Fritz Bauer war stigmatisiert. Hans Globke, der einstige Spezialist für Judenfragen im NS-Staat, behielt, ungeachtet des weltweiten Entsetzens über den Massenmord an den Juden, seinen Bonner Posten bis zum Erreichen des Pensionsalters. Er verließ das Kanzleramt 1963 zusammen mit seinem Mentor Konrad Adenauer.

Für Fritz Bauer bestand eine der Lehren aus dem Untergang der Weimarer Republik in der Erkenntnis, dass eine demokratische Ordnung nur dann auf sicherem Grund steht, wenn die Rechte der Bürger gegenüber der Macht des Staates gestärkt würden. So erklärt sich, dass er scharfe Kritik an der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Frage des Rechts auf passiven Widerstand gegen staatliches Unrecht übte. Nach seiner Meinung hatten verschiedene Senate des Bundesgerichtshofs in Urteilen zur Wehrdienstverweigerung das Recht auf passiven machte deutlich, dass nach seiner Ansicht jeder das Recht zu solchem Widerstand gegen staatliches Unrecht besitze. Öffentlich verkündete er, in Deutschland müsse man lernen, nein zu sagen, wenn Verbrechen befohlen würden. Das Funktionieren der Demokratie hänge auch davon ab, dass falschem Gehorsam und missverstandener Loyalität ein Ende bereitet werde.

Bauers Kritik entzündete sich insbesondere an einer Entscheidung aus dem Jahr 1961, die großes Aufsehen erregte. Der Bundesgerichtshof hatte die Entschädigungsansprüche eines Wehrdienstverweigerers aus der NS-Zeit mit der Begründung zurückgewiesen, der Widerstand des Mannes sei eine Einzelaktion gewesen, die an den Verhältnissen nichts habe ändern können. Widerstand gegen eine Unrechtsherrschaft gelte nur dann als' rechtmäßig, »wenn die Widerstandshandlung ... als ein sinnvoller Versuch gewertet werden kann, den bestehenden Unrechtszustand zu beseitigen«. Das verneinte das Gericht im vorliegenden Fall. Dreißig Jahre dauerte es, bis ein anderes höchstes Gericht Wehrdienstverweigerung und Desertion unter Hitler als rechtmäßigen Widerstand gegen einen Unrechtsstaat anerkannte. Gestützt auf eine entsprechende Entscheidung des Bundessozialgerichts konnten von da an die Opfer der Nazi-Militärjustiz endlich mit Aussicht auf Erfolg eine Entschädigung beantragen.

Keiner wusste besser als Fritz Bauer, wie schwer gerade in Deutschland Verständnis für Auflehnung gegen die Obrigkeit zu wecken ist. Vor der Kirchlichen Bruderschaft in Hessen und Nassau klagte er Anfang der sechziger Jahre: »Das öffentliche Klima ist jedem Widerstand abhold.« Immer gebe es zu wenig Menschen, die gegen den Strom schwimmen. Aber er machte auch Mut, indem er das demokratische Bewusstsein zu stärken versuchte. Normales Instrument des Widerstandes seien »eine unerschrockene öffentliche Meinung und eine wache Opposition«. Demokratie lade zu permanentem Widerstand ein und fordere die kämpferische Auseinandersetzung über die ihr eingelagerten Gegensätze in allen Bereichen des menschlichen Lebens.

Der glänzende Rhetoriker schlug seine Zuhörer landauf und landab in seinen Bann. Dass er mit seinen Vorträgen Widerspruch provozierte, nahm er als selbstverständlich in Kauf. Nichts war ihm so verhasst wie unpolitisches Spießertum und kritiklose kleinbürgerliche Loyalität. Immer wieder warnte er vor blinder Staatsgläubigkeit, weil sie nach seiner Überzeugung zur Abstumpfung des Rechtsgefühls führe. Abzulehnen sei eine Ordnung, »die den Menschen des freien Entschlusses in eigener Verantwortung entwöhne.«

Ein Mann mit dieser Grundüberzeugung konnte natürlich nicht schweigen, als die Bundesregierung mit Plänen für eine Notstandsverfassung- an die Öffentlichkeit trat. In der mehrjährigen öffentlichen Debatte hatte stand der hessischen Generalstaatsanwalt auf der Seite derer, die zusätzliche Vollmachten für den Polizeiapparat ablehnten. Er befürchtete »praktisch unlimitierte Einschränkungen einer Reihe von Menschenrechten « für den Fall, dass die Entwürfe der Regierung in der vorliegenden Form angenommen würden.

Von solchen Befürchtungen wollten die Befürworter der Notstandspläne nichts hören, erst recht nicht von jemandem, der als oberster Ankläger eines Bundeslandes die Staatsgewalt verkörperte. Bauers Kritiker lagen seinen Dienstvorgesetzten mit der Klage in den Ohren, der hessische Generalstaatsanwalt gebe mit seinen »ständigen Stellungnahmen zu aktuellen Problemen« ein schlechtes Vorbild. Verantwortungslosigkeit warfen sie ihm vor und die Gefährdung des Vertrauens der Bürger in den demokratischen Rechtsstaat. Auch Bauer werde am Ende die Notstandsgesetze peinlich genau befolgen müssen, wenn der Bundestag sie erst einmal verabschiedet habe. Das geschah dann 1968, im Todesjahr Bauers, während der Zeit der Großen Koalition, also unter Mitwirkung seiner eigenen Partei.

Die fortgesetzten Angriffe auf den hessischen Generalstaatsanwalt hatten zur Folge, dass sein Ansehen bei politisch interessierten jungen Menschen wuchs. Fritz Bauers weißer, etwas widerspenstiger Haarschopf und die feste Stimme mit ihrem schwäbischen Akzent erweckten Ehrfurcht und Respekt. Etwas Charismatisches ging von der gedrungenen Gestalt aus, wo immer sie hinter einem Rednerpult auftauchte. So nahm es nicht wunder, dass der Landesjugendring von Rheinland-Pfalz den ehemaligen KZ-Häftling einlud, im Oktober 1960 auf einer Arbeitstagung zum Thema Rechtsradikalismus zu sprechen.

Bauers Referat über »Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns« fand so viel Zustimmung, dass die Veranstalter den Text drucken ließen, um ihn einem größeren jugendlichen Publikum zugänglich zu machen. Damit war der Kultusminister von Rheinland-Pfalz, Eduard Orth, überhaupt nicht einverstanden. Er verbot die Verteilung der Broschüre mit den Ausführungen des hessischen Generalstaatsanwalts für sämtliche höheren und berufsbildenden Schulen seines Bundeslandes. Zur Begründung erklärte der CDU-Politiker, ihr Inhalt sei »sachlich fragwürdig und von einseitiger Betrachtungsweise geprägt«.

Die SPD-Opposition im Mainzer Landtag nannte das Vorgehen des Ministers einen Akt geistiger Bevormundung. Sie verlangte eine Parlamentsdebatte über den Vorgang, aber das Verbot blieb bestehen. Die Jugendorganisationen - mit Ausnahme der katholischen Jugend – wollten die Sache jedoch nicht auf sich beruhen lassen. Sie forderten den Kultusminister auf, seine Haltung in einem Streitgespräch mit Fritz Bauer zu erläutern. Dazu war Eduard Orth aber nicht bereit.

Auf einer außerordentlichen Vollversammlung des Landesjugendringes Anfang Oktober 1962 in Bad Kreuznach rechtfertigte an Stelle des Ministers ein junger Landtagsabgeordneter der CDU das Verbot. Nassforsch belehrte er den in KZ-Haft und Emigration ergrauten Generalstaatsanwalt, der zeitliche Abstand zum so genannten Dritten Reich sei noch viel zu kurz, um ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus fällen zu können. Der dies sagte, war kein anderer als der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl.

Ungeachtet aller Proteste blieb dem von den Nazis verfolgten Antifaschisten Fritz Bauer der Zugang zu den rheinland-pfälzischen Gymnasien verwehrt. Dagegen durfte wenig später Hitlers Großadmiral Karl Dönitz nach der Entlassung aus Kriegsverbrecherhaft vor den Schülern eines Gymnasiums im schleswig-holsteinischen Geesthacht mit Einverständnis des zuständigen Kultusministers Osterloh von der CDU seine Sicht der Dinge ungehindert ausbreiten. Später beklagten dann Leute aus derselben politischen Ecke, die diesen und andere ähnliche Skandale zu verantworten hat, das Wiederaufleben nazistischer und rassistischer Gewalt.

Ich war als Journalist damals dabei in Bad Kreuznach und sehe die Akteure des hitzigen Disputs im düsteren Saal des Bootshauses an der alten Nahe-Brücke noch deutlich vor mir. Wenn ich in der inzwischen vergilbten Broschüre blättere, die angehende Abiturienten nicht lesen sollten, finde ich nichts, was nicht auch nach Jahrzehnten noch gültig ist. Im Gegenteil - Bauers Warnungen vor einem Rückfall in frühere Denkweisen und seine Analyse des Abgleitens der Weimarer Republik in den gewalttätigen Rechtsextremismus der Nationalsozialisten sind aktueller denn je.

„Statt einer ,Bewältigung der Vergangenheit‘, die auch damals notwendig war und die einen harten Willen zur Wahrheit erforderte, zog man den Betrug und Selbstbetrug eines angeblichen Dolchstoßes vor und suchte krampfhaft nach Sündenböcken. Man fand sie bald in ,Marxisten‘, bald in Juden ... Jeder Sündenbockmechanismus erwächst aus Charakterschwäche; er ist ein infantiler Zug und alles andere als eine männliche Reaktion. Je schwächer die Leute sind und je mehr sie von Minderwertigkeitskomplexen geplagt werden, desto mehr rufen sie nach Härte und desto gewalttätiger und brutaler treten sie auf, um ihr eigenes Ungenügen und das Fiasko ihres Daseins zu verbergen. Die Kraftmeierei des Nazismus, sein Geschrei, seine Demonstrationen, seine Verbrechen, waren die Maske von neidischen Schwächlingen.“

Der Sündenbockmechanismus, von dem Fritz Bauer vor fast einem Halben Jahrhundert sprach, gehört keineswegs der Vergangenheit an. Er ist nicht nur bei den Glatzköpfen zu beobachten, die in pseudonazistischer Kostümierung »Deutschland den Deutschen« brüllen und gelegentlich Brandsätze gegen Ausländerwohnungen schleudern, sondern auch bei jenen Leuten, die das miese Treiben klammheimlich beklatschen, ganz zu schweigen von jenen Politikern, die mit dem affektbeladenen Wort »Asylmissbrauch« ihr eigenes Unvermögen vertuschen, die verheerenden Folgen der dritten industriellen Revolution mit ihrer millionenfachen Existenzvernichtung auch nur halbwegs zu bannen.

Schwer zu schaffen machte dem hessischen Generalstaatsanwalt der latente Antisemitismus in Deutschland, der sich Ende der fünfziger Jahre wieder einmal in einer Welle antijüdischer Ausschreitungen entlud. Als dann auch noch eine Umfrage unter Hamburger Bürgern bekannt wurde, bei der jeder Zweite die Frage verneint hatte, ob ein Jude Minister in Bonn oder General der Bundeswehr werden könnte, ließ Fritz Bauer seinem Kummer freien Lauf. Die Gelegenheit bot sich ihm Anfang 1963 in einem Interview der dänischen Zeitung »B.T.«, der Boulevardausgabe des angesehenen Kopenhagener Blattes »Berlingske Tidende«.

Die Nachrichtenagentur UPI verbreitete darüber am 27. Februar 1963 eine Meldung, die tags darauf in allen Zeitungen stand. Bauer wurde darin mit den Worten zitiert, die deutsche Jugend könne liberale und demokratische Standpunkte im eigenen Land immer noch nicht finden. Auf die Frage, ob er damit andeuten wolle, dass Hitler heute leichtes Spiel mit dem deutschen Volk hätte, antwortete er nach dieser Darstellung: »Ich glaube nicht, dass die junge deutsche Demokratie stark genug wäre, ihn abzuweisen.« Über die Haltung der Deutschen gegenüber den Juden sagte er: »Der beherrschende Einfluss der Juden im Geschäfts- und Kulturleben ist gebrochen. Aber der Hass ist noch der gleiche.«

Ein empörter Aufschrei der etablierten Politik war die Folge. Als erster richtete der Sprecher des SPD-Vorstandes, Franz Barsig, einen heftigen Angriff auf den Parteifreund. Die Bundesregierung ihrerseits bezeichnete Bauers Äußerungen als Entstellungen, die sie entschieden zurückweise. Der FDP-Politiker Willy Weyer erklärte, mit seinen Diffamierungen schade Fritz Bauer auf ungeheure Weise dem deutschen Ansehen im Ausland. Von Würdelosigkeit war die Rede und – schlimmer noch - sogar davon, der hessische Generalstaatsanwalt sei anscheinend Kommunist.

Nicht alle ließen sich von dem Geschrei mitreißen. Im hessischen Landtag fand ein Antrag der CDU auf Suspendierung Fritz Bauers keine Mehrheit. Eine unabhängige Zeitung schrieb, wenn das Ansehen Deutschlands überhaupt Schaden gelitten habe, so nicht durch vielleicht überspitzte Formulierungen Bauers, sondern durch die heftige Reaktion so vieler, die selbst im Glashaus säßen. Dass manche in dem Interview eine willkommene Gelegenheit erblickten, den unangepassten Juristen aus seinem Amte zu vertreiben, wurde bald deutlich. Als nämlich der Historiker Golo Mann den Faden mit der Bemerkung weiterspann, »Wo Auschwitz möglich war, ist alles wieder möglich«, brach kein Sturm der Entrüstung los. Und als der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer äußerte, zwei Drittel aller Deutschen seien Antisemiten, sie seien es immer gewesen und würden es immer bleiben, fiel niemand über ihn her.

Anfang der sechziger Jahre wurde Fritz Bauer als Ignorant beschimpft, weil er Zweifel an der demokratischen Stabilität der Bundesrepublik hatte – dreißig Jahre später sah der Verfassungsschutz die innere Sicherheit durch eine »neue Dimension« rechtsextremistischer Gewalt »dramatisch gefährdet«. Weil Fritz Bauer besorgt war wegen fortdauernder Sympathien für Hitler, wurde er als »Nestbeschmutzer« geächtet; doch 1993 ergaben zwei Umfragen, dass mehr als die Hälfte der Amerikaner und mehr als die Hälfte der Briten eine Wiederkehr des Nationalsozialismus in Deutschland befürchteten.

Dreißig Jahre nach Bauers Wort vom gleich gebliebenen Hass gegen die Juden wurden dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, die antisemitischen Schmutzbriefe nach eigenem Bekunden nicht mehr anonym zugesandt, sondern mit vollem Absender, und Helmut Kohl benannte einen Mann als Kandidaten der CDU für das Amt des Bundespräsidenten, der mit seinen Äußerungen über die NS-Vergangenheit - wie Bubis sich ausdrückte - den latenten Antisemitismus in Deutschland wieder salonfähig gemacht habe.

Kein Zweifel - Fritz Bauer hat vieles schärfer gesehen als andere. Was er heute zu Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass sagen würde, hat er 1961 vor der Kirchlichen Bruderschaft in Hessen und Nassau formuliert. Das Grundgesetz verlange Nächstenliebe, erklärte er damals. Es gebiete nicht mehr und nicht weniger, als alle menschenwürdig zu behandeln, ohne Rücksicht auf Glauben oder Unglauben, auf Abstammung, Herkunft und Stand.

Zu Lebzeiten ist der von den Nazis verfolgte Jurist und leidenschaftliche Demokrat mit seinen Ansichten bei vielen auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen. Inzwischen verleiht die Humanistische Union, zu deren Mitbegründern er zählte, einen »Fritz-Bauer-Preis«, und das Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust in Frankfurt am Main trägt den Namen »Fritz Bauer Institut«. Ein erster Schritt zur Rehabilitierung des unbequemen Mahners, dessen Geburtstag sich am 16. Juli 2003 zum 100. Male jährt, ist damit getan, aber es klaffen noch immer großer Lücken in der Würdigung dieses ungewöhnlichen Lebens.

In der »Chronik des 20.Jahrhunderts« wird die Frankfurter Eiskunstläuferin Marika Kilius fünfmal erwähnt, der Initiator des Frankfurter Auschwitzprozesses hingegen kein einziges Mal. Und natürlich wurde Dr. Fritz Bauer zeitlebens einer staatlichen Ehrung nicht für würdig befunden, ganz im Gegensatz beispielsweise zu seinem Kontrahenten Dr. Eduard Orth. Der bekam das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband als Kulturminister von Rheinland-Pfalz ausgerechnet in jenem Jahr, da auf seine Weisung hin die Gymnasiasten des Landes Bauers Schrift über die Ursachen des Nationalsozialismus im Unterricht nicht zu Gesicht bekommen durften. Zur selben Zeit war an den Oberstufen der höheren Lehranstalten ein Geschichtsbuch zugelassen, in dem die Judenvernichtung unter Hitler mit ganzen sieben Zeilen abgetan wird.

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Erstveröffentlichung am 19.12. 1993, Radio Bremen