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DAS JÜDISCHE LOGBUCH , Anfang Januar 2023

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Im Sommer feierte Israels Präsident Itzchak Herzog im Basler Stadtcasino 125 Jahre Zionistenkongress und in einer Brandrede Israels demokratische Errungenschaften. Letzte Woche stellt er sich dann in einem Tweet den neuen Realitäten in seinem Land: «Ich verurteile jede Aussage, die eine Grundlage für Ausgrenzung darstellt, oder jedes Phänomen, das Diskriminierung zulässt. Ich handle und werde mit all meiner Kraft als Präsident des Landes handeln, um Schaden von verschiedenen Teilen und Bevölkerungsgruppen der Öffentlichkeit abzuwenden.»


Er reagierte auf die letzte eskalierende Äußerung des designierten Regierungsmitglieds Orit Strock. Israels rechtsextreme Regierung ist Realität. Eine Regierung mit justiziablen, antidemokratischen, faschistoiden, rassistischen und antijüdischen jüdischen Exponenten. Da geht es längst nicht mehr um veraltete Schemen wie links-rechts, sondern demokratisch oder nicht. In westliche Kategorien übersetzt wäre das eine Regierung mit Mitgliedern des französischen Front National, Spaniens Vox, Jobbik, Polens Prawo i Sprawiedliwość, den Schwedendemokraten, Griechenlands Goldener Morgenröte, Deutschlands AFD angereichert mit Evangelikalen oder Trump-Republikanern in den USA.

Israels Regierung hat heute neben korrupten Mitgliedern Vertreter, die teils noch extremere Positionen als einst der zionistische Außenseiter Vladimir Jabotinsky vertreten. Ihm war Herzls «Basler Programm», das auf seinem Buch «Der Judenstaat» basierte, zu liberal. Durchgesetzt haben sich allerdings die liberalen Kräfte nicht nur mit der Gründung eines sozialistisch demokratischen Rechtsstaats Israel, sondern auch weltweit innerhalb der jüdischen Diaspora mit ihrer liberalen jüdischen Mehrheit, die bis heute Rechtstaatlichkeit, Demokratie und die Einhaltung von Menschen- und Freiheitsrechten permanent anmahnt.

Israels neue Regierung steht mit im Wahlkampf propagierten und den letzten Tagen bereits formulierten Gesetzesvorlagen diametral der jüdischen Diaspora entgegen. Jene Repräsentanten, die seit Jahren bei Antisemitismus zu Recht aufbegehren und auch kleinste Ereignisse zu weltweiten inflationären Schlagzeilen hochpushen, Gelder für jüdische Präsenz und Sicherheit von Staaten fordern oder Begrenzung der Religionsfreiheit anmahnen. Zu Israels Regierung mit rechtsextremen und faschistoiden Mitgliedern haben sie zu lange geschwiegen, kaum interveniert und wundern sich heute, dass seit gestern die Abschaffung der israelischen Gewaltenteilung mit der Vorlage von Israels neuem Justizminister Yariv Levin zur Disposition steht (vgl. «Zur Lage» Seite 10). Bald werden sie sich wundern, wenn ein Teil der Juden in Israel nicht mehr als Juden anerkannt, in Israel eine jüdische beziehungsweise antijüdische Zweiklassengesellschaft etabliert werden könnte.

All dies ist nicht über Nacht geschehen, sondern zeichnet sich seit Jahrzehnten ab, spätestens mit extremistischen Parteien wie jener von Kahana, den radikalen Siedlerbewegungen, den paramilitanten Gruppierungen im Land selbst. Da nützt der Verweis auf radikale oder terroristische Feinde Israels, Islamisten oder Palästinenser wenig. Die extremistischen israelischen Kräfte votieren für einen biblisch-nationalistischen Judenstaat, eine semiautokratische Autokratie und gleichen langsam Israels Feinden zu sehr. Israels Regierung und die informierte Wählerbevölkerung hat die rote Linie in den letzten Wochen mehrfach überschritten. Die jüdische Diaspora hat ihren Anteil daran, denn sie hat sich überrumpeln, einbinden und neutralisieren lassen. Spätestens seit der damalige Außenminister Avigdor Lieberman Israels Botschaften weltweit zu Hasbara-Propaganda-Bollwerken umfunktionieren liess und diese massiv Einfluss zu nehmen begonnen haben auf die jüdische lokale Zivilgesellschaft und auch jüdische Kritiker ins Visier nahmen.

Wie schief all dies in der Landschaft steht, zeigt etwa die Einladung des Keren Hajessod (KH) Schweiz dieser Tage für das Basler Magbit Opening im Januar mit der EU-Beauftragten für Antisemitismus Katharina von Schnurrbein zum Thema «Antisemitismus in Europa – ein Blick in die Zukunft» ausgerechnet ins Basler Stadtcasino. Schon vor der Bildung der neuen Regierung fragte man sich, weshalb eine Organisation wie der KH dringend vorherrschende Themen zu Israel aufgegeben hat und nicht mehr verhandelt. Immerhin ist der KH Israels Jewish Agency assoziiert und möchte mit seinen Projekten «Israels benachteiligte Bevölkerung in der Peripherie», «soziale Chancengleichheit» unterstützen und gleichzeitig «werden die Aliya und Integration sowie das friedliche Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen» sicherstellen. Alles Anliegen, die im Moment von der israelischen Regierung zur Disposition gestellt werden und die man in einer KH-Veranstaltung gerne verhandelt gehört hätte.

Doch «Antisemitismus» funktioniert wohl besser als Israels innenpolitische Situation, wenn’s um den Auftakt zur Spendenkampagne geht. Ein Anlass, wie er symptomatischer für die schlafende jüdische Diaspora nicht sein könnte. Sie sitzt mit Israel im Guten wie im Schlechten im gleichen Boot und hat alles Interesse, die neue israelische Regierung zu konfrontieren und sanktionieren. Sonst wird bald nicht mehr der Antisemitismus in Europa, sondern Ausgrenzung von Juden in Israel zum Thema – und Europa zur Rückzugsstätte für anti-nationalistische, liberale, demokratische und moderne Jüdinnen und Juden. Der jüdische Staat war gemeint als Heimstätte mit kultureller jüdischer Prägung im Besten Sinne des multikulturellen Zusammenlebens – nicht als jüdische, monokulturelle Endzeitverheißung. Das Basler Programm hoffte auf Israel als jüdische Heimstätte. So aber entbindet sich Israel von dieser Vision und degradiert die einstige Realität wieder zur Utopie. Diesmal selbstverschuldet.

Foto:
Israels Parlament die «Knesset» - von der blühenden zur missbrauchten Demokratie?
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 3. Januar 2023
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.