Feature „Kirche und Politik“, Teil 4/8

Klaus Philipp Mertens



Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das Warten erschien unerträglicher als die Anwesenheit des Todes; die wohlkonservierte Trauer wich allmählich einer quälenden Ungeduld. Mit jeder Minute wuchsen Spannung und Verdrossenheit.



In dieser sich zuspitzenden Situation, in der sämtliche Gefühle zu eskalieren drohten, erkannte der Organist die Gunst der Stunde, seiner Stunde. Mit der Überzeugungskraft des Nothelfers intonierte er ein Vorspiel:

„Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt“. Und wechselte dann nach kurzer Pause, aber weiterhin unvermittelt über zu „Jesus geh‘ voran auf der Lebensbahn“.

Knappe zehn Minuten ließen sich so überbrücken. Und nicht wenige in der Trauergemeinde hielten diesen späten, aber doch wirkungsvollen Auftakt für den geplanten Beginn der Feier.

Aber nach wie vor zeigte sich kein Pfarrer. Da wurde der Mann an der Orgel noch mutiger. Er griff in das Repertoire für solche Anlässe und ergänzte die bereits ge-spielten Weisen um weitere sachdienliche Melodien:
„So nimm denn meine Hände“ und „Befiehl du deine Wege“.

Das musikalische Intermezzo hatte genügt, die beiden eigentlichen Hauptakteure der Vorstellung zu einer Aktion zu drängen. Denn irgendetwas Unvorhergesehenes schien diese Beerdigung platzen zu lassen. Und das wollten sie um fast jeden Preis verhindern.

„Ich geh’ ma’ nachkucken – dieser Arsch spinnt doch wohl wieder! Fang’ ma’ mit deiner Rede an!“

Wenige Worte, kaum wahrnehmbar geflüstert, zwei, drei eindeutige Blicke und Gesten – jeder spielte eine besondere Rolle, als würde es einen Notfallplan für das Undenkbare geben.

Karl Hangebrauck, der alerte und sich seiner Bedeutung und seines Einflusses be-wusste Vorsitzende der Bergbaugewerkschaft, erhob sich, schritt gemessen nach vorn und platzierte sich am Rednerpult zu Füßen des aufgebahrten Sargs. Die Nervosität, die auch ihn während der letzten Viertelstunde befallen hatte, war ihm nicht mehr anzumerken. Lediglich seine Stimme war belegter als üblich – jedoch konnte man diesen Umstand bei einigermaßen Wohlwollen auch seiner Trauer zu-rechnen.

Er wandte sich an die Versammelten und hielt in pastoralem Tonfall, aber durchaus gekonnt seine Rede:

„Liebe Familie Schulze-Althoff, liebe Angehörige, sehr geehrter Herr Oberbergrat Gernsheim, liebe Kollegen, auch in dieser Stunde der Trauer schauen wir mit Stolz und Dankbarkeit auf das Lebenswerk eines Mannes zurück, dem wir alle viel ver-danken..."

Und während er biografische Daten und soziale Wohltaten des hochverdienten Toten aneinanderreihte, eilte Gisbert Wöhrmann, Bergwerksdirektor und bereits seit einigen Jahren Nachfolger des Verstorbenen, unbemerkt nach draußen.

Peter Wilken hatte diese Szenerie aus der ersten Reihe verfolgt. Denn als Friedhofsgärtner oblag ihm zusammen mit dem Bestatter die Organisation der Trauerfeier. Als Gisbert Wöhrmann aufgestanden und durch die Seitentür nach draußen entwichen war, stand auch er auf und ging ins Freie, sodass er weiterhin Augenzeuge der Geschehnisse blieb.

Sobald Wöhrmann die Friedhofshalle verlassen hatte, hetzte er den rot gekieselten Weg hinunter, dem Tor entgegen. Dort parkte sein Dienstwagen. Kaum war sein Fahrer in Blickweite, gestikulierte er ihm mit heftigen Gebärden und lautem Rufen, dass sie sofort losfahren müssten.

Der Chauffeur reagierte richtig, startete das schwere Fahrzeug, steuerte es seinem Chef entgegen und kaum hatte dieser Platz genommen, preschten sie mit hoher Geschwindigkeit die knapp zwei Kilometer zum Pfarrhaus.

Fast wären sie in der Einfahrt mit zwei Fahrzeugen kollidiert, die dort unvermutet standen: einem Streifenwagen der Polizei und einem Notarztwagen.
Wilken war ihnen auf dem Fahrrad gefolgt, doch weil sein Weg erheblich kürzer war, fast zeitgleich mit ihnen eingetroffen. Fortsetzung folgt


Hinweis:
Die Namen der Personen und die der Dortmunder Ortsteile bzw. Kirchengemeinden wurden geändert. Ansonsten folgt der Bericht den tatsächlichen Vorgängen bzw. den Schilderungen von Zeitzeugen.

 

Foto: Evangelischer Friedhof DO-Kirchderne, © KPM