Erinnerung an eine ergreifende Rede

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Vor einigen Tagen ist Elie Wiesel gestorben, einer der Wenigen, die Auschwitz überlebt und die später Zeugnis dafür abgelegt haben, wozu ein Kulturvolk in der Mitte Europas fähig gewesen ist, als über seinen Köpfen die Fahne mit Hakenkreuz flatterte. Bei allem Schmerz hatte Hass im Herzen von Elie Wiesel keinen Platz.

 

Er unterschied immer zwischen denen, die Schuld auf sich geladen haben und jenen, die sich frei davon hielten. Dennoch konnte er in der deutschen Erinnerungskultur niemals Wurzeln schlagen. Hans-Ulrich Wehler erwähnt  in seiner hoch gelobten „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ nicht einmal seinen  Namen. 65 Jahre dauerte es, ehe sich die Bundesrepublik Deutschland entschloss, ihm das Große Verdienstkreuz mit Stern zu verleihen. Da war Elie Wiesel 86 Jahre alt. Der Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, Hans Globke, erhielt mit 61 Jahren das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband, ehe er mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland in den Ruhestand verabschiedet wurde – zusammen mit seinem Mentor Konrad Adenauer. Am 27. Januar 2000 hielt Elie Wiesel im Bundestag eine Rede zum Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Sie beschämt heute noch alle, denen Erinnerung eine Sache des Terminkalenders zu sein scheint. 

Es folgen Auszüge aus dieser Rede:


Mein Volk hatte zahllose Feinde, seitdem es auf der Weltbühne auftrat. Wir erinnern uns ihrer aller. Aber keiner hat uns so tief verwundet wie Hitlerdeutschland. Im Verlauf der Jahrtausende haben wir Diskriminierung, Verfolgung, vielfältige Isolierung erlitten, die Kreuzzüge, die Inquisition, die Pogrome, die verschiedenen Folgen eingefleischten Judenhasses überlebt. Aber der Holocaust ging viel weiter. Ich sage es unter Schmerzen: Kein Volk, keine Ideologie, kein System hat je in so kurzer Zeit ein solches Ausmaß an Brutalität, Leid und Demütigung über ein Volk gebracht wie das Ihrige über das meine.


Ich weiß, dass nicht alle Deutschen mitmachten, und auch an sie müssen wir denken. An jene, die den Mut hatten, sich gegen die amtliche Rassenideologie zu stellen. Jene, die dem totalitären Nazi-Regime widerstanden. Jene, die es zu stürzen versuchten und mit ihrem Leben dafür bezahlten. Zu Recht ehren Sie ihre Tapferkeit. Nur, leider, waren es wenige. Und die jüdischen Freunden und Nachbarn beistanden, waren noch weniger.


Viele in Deutschland und anderswo lasten heute alle Schuld den Nazis auf. "Die Nazis haben dies oder jenes getan", heißt die akzeptierte Formel. Die Nazis, nicht die Deutschen. Soll das heißen, dass es zwei parallele Geschichten Deutschlands gibt, eine Nazi-Geschichte und die deutsche Geschichte? Natürlich waren nicht alle Deutschen Nazis. Aber wiederum kann ich Ihnen als Zeuge sagen, dass damals das Wort "deutsch" Ängste einjagte, dass wir uns fürchteten, wenn wir hörten, die Deutschen kämen.


Und wenn man die Opfer fragt, war alles deutsch - das Zyklongas war deutsch, die die Krematorien bauten, waren deutsch, die die Gaskammern bauten, waren deutsch. Die Befehle wurden auf Deutsch gegeben. Paul Celan sagt: "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland." Celan hat Selbstmord verübt, weil er gespürt haben dürfte, dass sein Ausspruch diese wesentliche Wahrheit seiner oder unserer Erfahrung immer noch nicht mitzuteilen vermochte. Bis zum Ende der Zeiten wird Auschwitz Teil Ihrer Geschichte sein, so wie es Teil der meinigen sein wird.


Ich glaube nicht, dass Sie sich der Befreiung von Auschwitz erinnern wollen, um Auschwitz zu vergessen. Im Gegenteil, Sie wollen diese Befreiung ins Gedächtnis rufen, um alles davor zu verurteilen und mehr darüber zu erfahren. Ebenso wenig glaube ich, dass Sie den unanständigen Stimmen in diesem Land Gehör schenken wollen, die Ihnen einflüstern, doch endlich "das Blatt zu wenden", weil Sie angeblich "diese Geschichten satt haben". Wer einen Schlussstrich ziehen will, hat es schon längst getan. Er hat nicht nur das Blatt gewendet, sondern es aus seinem Bewusstsein gerissen. Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal. Das aber ist dann seine Last.


Was immer das neue Jahrhundert bringen mag, und wir brauchen verzweifelt Hoffnung für das neue Jahrhundert und seine neue Generation - Auschwitz wird den Menschen weiterhin zwingen, die dunkelsten Abgründe seines Seins zu durchforschen und sich ihrer schwankenden Wahrheit zu stellen.