Verhaftete Autoren in der Türkei, Kommentar in derStandard.at vom 3. August

Elfriede Jelinek

Wien (Weltexpresso) - Die Schriftstellervereinigungen sind sonderbar schweigsam angesichts der Massenverhaftungen in der Türkei. "Jeder kann etwas dafür oder dagegen", schreibt Elfriede Jelinek und fordert die Freilassung zweier Kollegen und aller willkürlich Gefangenen, schreibt die Kommentarredaktion des Standard vorneweg. Dann folgt der originale Kommentar:



Ich höre nichts. Ich höre nichts vom Internationalen PEN, ich muß mir wohl selber zuhören, was langweilig ist, weil ich ja weiß, was ich denke.

Die Verhaftungen von Menschen, auch von Künstlern und Journalisten, Journalistinnen, kommen und gehen in Wellen, sie kommen und gehen, die Menschen und die Wellen, manchmal kommen welche raus, dann müssen andre rein, als wäre es ein Naturgesetz wie die Wellen brüllender und fahnenschwenkender Unwissender, denn wer brüllt und Fahnen schwenkt, weiß nichts, doch dafür tut er was.

Er tut etwas dafür, weil er es kann, aber es stimmt nicht, daß er nichts dafürkann. Jeder kann etwas dafür oder dagegen. So habe ich es nach der Lektüre von unzähligen Zeitungsartikeln verstanden. Ich muß es aber nicht verstehen, es findet einfach statt, ohne mich.
Der Krieg, der folgen konnte

Die Wellen kommen wie die Flüchtlingsboote auf dem Meer, die einen ertrinken still, man hört nichts mehr von ihnen, die andren werden einfach an den Strand geworfen oder von andren Booten gerettet. Ich kann nicht einmal so ein Boot sein, das rettet. Ich höre nichts von denen, die sich der Verhafteten annehmen sollten, also sage ich was, und ich kann auch nichts dafür, und ich kann leider nichts dafür und nichts dagegen tun.

Hannah Arendt schreibt über die Stimmung nach dem Ersten Weltkrieg, dem der Zweite gefolgt ist, nicht weil er es wollte, sondern weil er es konnte und weil man dem Staat folgen muß, der seine Befehle gibt, sie schreibt also über den Haß, der sich aber auf niemand und nichts wirklich konzentrieren kann, ein diffuser Haß, der niemanden vorfindet, der verantwortlich gemacht werden kann, weder die Regierung noch die herrschende Klasse noch die Mächte des Auslands.

In der Türkei findet derzeit offenbar ein umfassendes Wissen statt, wer weg soll, wer verhaftet wird, wer wieder freigelassen wird, wer gefoltert wird, wer ein Geständnis macht und wer nicht, und in den Mächten des Auslands brüllen die Fahnenschwenker und zertrümmern kurdische Lokale.

Es ist also anders, es droht kein Weltkrieg, aber Hannah Arendt trifft die Stimmung, wenn sie schreibt, daß nichts von diesem Haß geschützt sei und es keine Sache der Welt gebe, bei der man sicher sein könne, daß der Haß sich nicht plötzlich gerade auf sie konzentrieren würde.

So droht die Totalität: Nichts und niemand ist sicher vor etwas Diffusem, das so diffus gehalten wird, damit man sich nicht darauf fokussieren kann. Auch deshalb nicht, weil da immer etwas andres kommt und wieder geht, es geht so schnell, die Menschen werden in Atem gehalten von ihrem Führer, der ihnen dann oft den Atem auch wieder nimmt, obwohl ein Atem jedem zusteht. Die einen werden verhaftet, andre kommen frei, die einen sind Anhänger, angeblich, an etwas, das ich nicht kenne, die andren fahren ohne Anhänger. Aber nicht der Sultan. Der besteht aus seinen Anhängern, sonst hätte er keinen Bestand mehr.

Ich höre nichts von meinen (Schriftsteller-)Vereinigungen. Vielleicht stecken sie derzeit ja im Gefängnis ihrer Badehosen oder Bikinis an irgendeinem Strand fest. Da ich nichts höre, (vielleicht höre ich aber doch noch was, vielleicht morgen, trotzdem), muß halt ich etwas sagen:

Ich fordere die Freilassung aller offensichtlich willkürlich Zusammengefangenen in der Türkei, denen man keine Schuld an einem Putsch nachweisen kann. Und ich fordere hier ausdrücklich die Freilassung (vielleicht ist sie ja schon passiert, was weiß ich, die Wellen kommen ja und gehen, manchmal schneller, als man schauen kann) von zwei alten Männern:
Unbezahlbare Demokratie

Sahin Alpay, 72 Jahre, Politikwissenschaftler und Journalist, und Hilmi Yavuz, 80 Jahre, Schriftsteller, mein Kollege. Sie sind alt, und sie bekommen nicht einmal ihre Medikamente. Vielleicht hat sich auch das inzwischen geändert, ich hoffe es. Ja, brüllt nur und fahnenschwenkt, ihr, wie das Meer, aber aus Menschen. Und das Meer gibt einzelne Menschen nur widerwillig frei.

Das Menschenmeer auf den Straßen, das angeblich die Demokratie retten will, indem es sie verspottet und zerstört, soll sich teilen vor keinem Gott, aber vor mir, und es soll wenigstens diese beiden alten Männer loslassen und herausgeben, ich verlange das, bevor niemand mehr Wechselgeld hat und die Demokratie, für die die Fahnenschwenker, in denen der Haß schwappt, kämpfen, vielleicht in gutem Glauben, unbezahlbar geworden ist, weil dann jeder zahlen muß und nicht mehr wissen wird, wofür. (Elfriede Jelinek, 3.8.2016)

Elfriede Jelinek ist eine österreichische Schriftstellerin. Im Jahr 2004 erhielt sie den Literaturnobelpreis (www.elfriedejelinek.com).

 

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Kommentar der anderen Elfriede Jelinek 3. August 2016, 17:03
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