Die Evangelische Akademie Frankfurt thematisiert das Thema Grenzen im Zeitalter der Flucht


Heinz Markert


Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wir Menschen, die Grenzen überschreiten, leben in einem paradoxen Zwiespalt. Einerseits dehnen wir in einer Generation Grenzen in den Weltraum aus, sprengen die Enge des Erdballs. Andererseits ziehen wir Grenzen – oder bestehen auf ihnen -, die zum Problem werden, wenn Menschen, die vor Gewalt und Terror fliehen, vor Grenzen stehen, die sie nicht übersteigen können.


Eine treffende Zustandsbeschreibung des Dramas könnte daher lauten: Größe und Elend des Menschen – nach Blaise Pascal (1623-1663) -, denn es hängen von den Grenzen Existenzen ab, ihr Wohl oder Wehe, in der endlich gefassten Zeit des Lebens. Pascal war religiös gestimmter philosophischer Essayist mit den ‚Pensées‘.


Vor dem Hintergrund des theologisch-philosophischen Moments hatten in der Abendveranstaltung im Historischen Museum Frankfurt (hmf) zunächst Paolo Ferri vom ESA-Raumfahrtkontrollzentrum Darmstadt und der Frankfurter Philosoph Rainer Forst, der in der Denktradition der Frankfurter Schule steht, zum Komplex Grenzwelten – Weltgrenzen Gelegenheit ihre Beiträge zu liefern.

 


Grenzen: Weltraum · Europas Kometenjäger Rosetta


Paolo Ferri referierte anschaulich von der Reise der Sonde zum Mars und der Mission zur Landung auf dem Kometen 67P/Tschurjumov-Gerassimenko und verdeutlichte damit, wie souverän inzwischen die Raumfahrt mit Grenzen und deren Überschreitung umgeht, was in der Welt des Alltagsmenschen noch kaum Abbildung, ja nicht mal Niederschlag findet. Hier ist der Mensch der Erde noch ängstlich auf die Einhaltung der Grenze bedacht. Der Kopf schwirrte, wenn die Größenverhältnisse angesprochen wurden. Die Sonde Rosetta hat 7 Milliarden Kilometer zurückgelegt. Raffiniert ging es zu, indem die Sonde mit vier Swing-By-Manövern an Erde und Mars vorbei zusätzlich Schub erhielt.


Es ist auch nicht so, dass im Weltall einfach Steine nur andere Steine ankucken. Zwar ist die menschliche Zeit bislang nur ein schmaler Streifen im Zeiten-Diagramm, das über viereinhalb Milliarden Jahre reicht. Aber noch bevor eine Staubwolke sich zum Körper zusammenballte, den wir heute als Planet bezeichnen, gab es komplex organische Moleküle als Bausteine für weiterentwickeltes Leben aus dem All.


Es gibt ca. 200 Milliarden Galaxien, Milliarden an Sternen werden von Planeten umkreist, die dem ähnlich sind, den wir aus unmittelbarer Erfahrung kennen. Der Eindruck des Weltraumforscher ist, dass es wohl Grenzen gibt, aber sie sind tief in der Weite des Raums versenkt. Sie entziehen sich in einer undenkbaren Weite der Entfernungen und der unterschiedlichen Bedingungen einer möglichen Erfahrung.

 


Grenzen: Philosophie · Wie viel Grenze braucht der Mensch?


Für den Philosophen spielte in die Erörterung der Grenze wesentlich das nach vorne geschnellte Phänomen Flucht hinein. Was sonst vornehmlich an der einzelnen Existenz Erläuterung findet, ist aktuell und wohl auch eine sehr lange Zeit mit der dramatischen Flucht einer großen Zahl von Menschen verbunden. Als Philosoph für die Theorie des Politischen hat Rainer Forst den Zusammenhang Grenze und Mensch ohne Zögern sofort in diesen Zusammenhang gestellt
Die Schriftstellerin und Moderatorin Thea Dorn fordert die Linke - die sich damit schwertut - auf, endlich dem großen Phänomen Flucht gerecht zu werden. Bedenklicherweise beteiligen sich Intellektuelle nur mit Mühen an öffentlichen Diskussionen, halten sich vornehm im Hintergrund.

 


Grenzwelten · Unteilbarkeit der Menschenrechte


Die Grenze ist ein äußerlich trennendes Naturelement zwischen Gesellschaften. Sie kann scheiden, was im Wesen zusammengehört, während wir als Menschheit in der Zusammengehörigkeit einer geschaffenen Gattung die Eine sind.


Der Philosoph sieht sich in der Sandwichsituation des Erklärers und Begründers -zwischen dem, was die Konvention scheidet oder geschieden hat. Die Grenze schafft zwischen dem Mir und Dir eine Identität begründende Unterscheidung. „Identität entwickelt sich im Zwischen“ (Forst). Selbstidentifikation und Selbstverständigung formt die eigene Würde und bestärkt den Prozess des Autonomwerdens.


Wird die Grenze zum anderen überzeichnet, liegt ein Problem der Verständigung des Selbst mit sich vor. Die Überbetonung der Grenze zwischen Ländern, Sprachen, distinkten Moralvorstellungen und Leitkulturen kann zum Initial des Konflikts werden. Aggressivität spielt hinein. Die andere Vorstellung wird zur Bedrohung für die eigene.


Bei allem Sinn für Grenze ist es gefährlich, die andere Vorstellung, die andere Moral zur unbedingten Bedrohung aufzuzäumen. Andersheit gehört zum Spiel zwischen Grenze und Gemeinschaft. Grenzen eng zu ziehen begünstigt Pathogenese. Religion kann Grenzen ziehen, wo sie nicht sein sollten, aber sie kann auch beim Überschreiten von Grenzen mithelfen.


Die gemeinsame Integration des Eigenen wie des Anderen erfordert Arbeit an sich selbst, am eigenen Verständnis. Es widerspricht der menschheitlichen Norm der Unteilbarkeit der Gattung, Grenzen hochzuziehen, ‚Grenzen sollten nicht gegen diejenigen hochgezogen werden, die in ihrer Not nicht zum Grenzfall gemacht werden dürfen‘, so das lautete das Diktum des Philosophen.


Toleranz lebt im Zwischenraum ‚des gerade noch Zulassens oder Verbietens‘, kurz: zwischen Burka und Genitalverstümmelung. Wir sollten stets uns als Grenzvirtuosen verstehen, so weit wie nötig, besser: soweit wie möglich, um mit anderen gleich (oder zumindest sehr ähnlich/verwandt) zu sein. Sie sind dann in unserem Kästchen als Gleichgestellte eingeordnet. Das, was nicht geht, liegt aber unzweideutig auch vor.


Staatsgrenzen haben keine wahrhaft natürliche Abgrenzungskraft, wir haben keine moralische Verpflichtung bzw. keinen Rechtstitel auf ethnisches Begrenzen, ‚“noch nie war es gerechtfertigt, abzuweisen“. ‚An dieser Stelle versagt Europa, sofern es moralische Hilfe verweigert‘. Die Identitätsproblematik muss nicht zum Sich-Gefährdet-Fühlen gesteigert werden. ‚Die Überzeichnung der Identität ist völkisch‘. ‚Ein Aufschwingen dazu, wer dazugehört und wer nicht‘, steht im Gegensatz zur „Unteilbarkeit des Menschenrechts“. Weltweit sind allein 50 Millionen Kinder auf der Flucht oder entwurzelt - was das gleiche ist.

 

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von links nach rechts:  Alois Theisen, Paolo Ferri, Rainer Forst, Klaus Vogel (c) Heinz Markert


Info:
Evangelische Akademie Frankfurt, ‚Grenzwelten – Weltgrenzen‘, Auftakt zum Halbjahresthema am 07.09.2016, Historisches Museum Frankfurt · Begrüßung: Dr. Thorsten Latzel · Einführung und Moderation: Alois Theisen. - ‚Europas Kometenjäger Rosetta‘, Dr. Paolo Ferri vom ESA-Raumfahrtkontrollzentrum Darmstadt · ‚Wie viel Grenze braucht der Mensch‘, Prof. Dr. Rainer Forst, Universität Frankfurt · ‚Menschen in Seenot´, Dr. Klaus Vogel, Präsident und Gründer von SOS Mediterranee Deutschland e.V.