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Kategorie: Zeitgeschehen

Nachwort zu seinem Besuch in Babi Jar

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso). Nein, hier soll nicht noch einmal von dem Unbeschreibbaren die Rede sein, das sich vor 75 Jahren am Rande der Schlucht von Babi Jar zugetragen hat, sondern vom Umgang mit dem beispiellosen Verbrechen durch die Nachfahren der Täter. Was haben deutsche Schüler erfahren von dem grausamen Massenmord an mehr als 33.000 jüdischen Frauen, Kindern und Männern? Nicht viel, oder besser gesagt -  nichts.


Als der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Anfang der 1960er Jahre den Mantel des Schweigens zu zerreißen versuchte, war an den höheren Schulen des Landes Rheinland-Pfalz ein Geschichtsbuch im Schwange, das die Verfolgung der Juden mit sieben Zeilen abtat. Das ist heute nicht mehr so. Inzwischen warnen Historiker besorgt von einem „deutlich vernehmbaren Aufarbeitungsstolz“, so als habe sich dem deutschen Wirtschaftswunder ein deutsches Vergangenheitsbewältigungswunder hinzugesellt. Die Deutschen hätten im Gegensatz zu anderen Ländern eine „beispiellos ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ aufzuweisen, prahlte NDR Kultur am 16. Oktober 2015.

Einer von denen, die sich diesen Ruhmeskranz liebend gern um ihr Haupt legen lassen, heißt Joachim Gauck. Nicht weniger als zwölf Reden habe er als Bundespräsident zum Gedenken an die Opfer der Nazis und an den von Deutschen angezettelten zweiten Weltkrieg gehalten, war dieser Tage zu lesen. In der Tat ist Gauck während  seiner Amtszeit an viele Stätten des Gedenkens gereist, nach Oradour in Frankreich zum Beispiel, nach Lidice in der Tschechischen Republik, nach Distomo in Griechenland und oder jetzt eben auch in die Ukraine, um dort vor Ort die Erinnerung an die vergessenen Opfer von Babi Jar zu beschwören.

Nur ein Land hat Gauck als Bundespräsident nie besucht, die ehemalige Sowjetunion, obwohl sie im Zweiten Weltkrieg den höchsten Blutzoll entrichten musste; 26 Millionen Menschen mussten sterben, etwa die Hälfte davon Zivilisten. Und wenn nicht alles täuscht, wird Joachim Gauck auch in der verbleibenden Amtszeit seinen Fuß niemals auf russischen Boden setzen, so als wollte er den Russen heimzahlen, dass sein Vater 1951von einem sowjetischen Militärgericht in der DDR verurteilt wurde und vier Jahre in einem sibirischen Arbeitslager verbringen musste.

Dieses Kindheitserlebnis machte aus dem Pastor einen ewig missionierenden Antikommunisten, für den Kommunismus und Nazismus auf eine Stufe zu stellen ist, so als seien die sowjetischen Befreier von Auschwitz ebenso kriminell gewesen, wie die deutschen Bewacher. Auch in Babi Jar konnte Gauck nicht herunter von seinem Steckenpferd einer vereinheitlichten europäischen Erinnerungskultur, bei der Täter und Opfer sich verbrüdern. An Deutsche, Juden, Ukrainer, Russen und Polen gerichtet sagte er: „Wir, die wir verstehen wollen, wie es dazu kommen konnte, dass unsere Väter und Großväter zur Mördern oder zu Opfern wurden, sind heute aufeinander angewiesen.“ Was heißt das im Klartext? Sollen die Europäer etwa nachträglich Verständnis dafür finden, dass deutsche Soldaten sozusagen als willenlose Vollstrecker des Schicksals wehrlose Menschen kaltblütig ermordeten?

Anscheinend hat Joachim Gauck sich zu Herzen genommen, was der Historiker Heinrich August Winkler den Deutschen am 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus im Bundestag zurief, nämlich dass sie sich „durch die Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen“ sollten. Genügt es nicht, dass Deutschland als wirtschaftliche Großmacht den Kurs der Europäischen Union bestimmt? Will es jetzt auch noch die Rolle als moralische Großmacht übernehmen, wie Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung vom 18. September 2015 unkte? Zumindest das sollte uns erspart bleiben. Sonst war auch der Blick in die Abgründe vergessener deutscher Schuld am 75. Jahrestag des Massakers von Babi Jar umsonst.

 

Foto: Bundespräsident Gauck in Babi Jar (c) zeit.de