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Kategorie: Zeitgeschehen

Interview mit Wolf Biermann, der zu seinem Achzigsten seine Autobiographie "Warte nicht auf bessere Zeiten" herausgebracht hat, Teil 2/4


Yves Kugelmann


Hamb urg (Weltexpresso) - Ihr Bruch mit linken Traditionen noch vor der Wende trat für die Öffentlichkeit wahrnehmbar in diversen Artikeln zur Zeit des ersten Irak-Kriegs zutage, offensichtlich in ihrem Essay in «Die Zeit» 1991 zum ersten Irak-Krieg, wo Sie schrieben: «Lieber pazifistisch gesinnter Leser, liebe friedensbewegte Leserin, damit wir einander von Anfang an richtig missverstehn: Ich bin für diesen Krieg am Golf.» Wann begann der Bruch?


Im Grunde seit Manès Sperber mir den bewußten Zahn gezogen hat.



 Das allerdings war der Bruch mit dem Kommunismus – tatsächlich sind Sie doch mit Ihren Anliegen, um die es Ihnen geht, ein klassischer Linker geblieben.
 
Ja, und dann stehe ich im Parlament vor diesen Leuten, denen ich vorwerfe, dass sie eben keine Linken sind, sondern Reaktionäre.



 Mit Parlament meinen Sie Ihren Auftritt im Bundestag von letztem Jahr. Können Sie denn sagen, was die Linke heute noch sein sollte oder kann?

 Nein. Die Begriffe in der Philosophie und Politik, die doch geschichtliche Begriffe sind, wandeln sich enorm. Das Wort Kommunismus zum Beispiel stammt ja nicht von Karl Marx, sondern von Étienne Cabet, einem klugen, gebildeten französischen Journalisten. Er setzte das Wort Kommunismus ungefähr 15 Jahre vor dem «Kommunistischen Manifest» in die Welt, und beschrieb darunter eine ideale Gesellschaft. Er überzeugte seine Anhänger, mit ihm nach Amerika auszuwandern, Land zu kaufen und dort gemeinsam die Theorie in die Praxis umzusetzen. Es kam, wie es kommen musste: Am Schluss hätten sie ihn fast totgeschlagen. Wer aber brachte das damals neue Modewort Kommunismus nach Deutschland? Heinrich Heine war das. Und seither hat sich der Begriff stark verändert, er steht inzwischen für das zynische Gegenteil von dem, was er ursprünglich mal in seiner humanistischen Substanz bedeuten sollte. Worte erfahren eine Wandlung durch die praktische Geschichte.



 Angela Merkel, mit der Sie befreundet sind und die DDR-Sozialisation teilen, hat letztes Jahr mit den Worten «Wir schaffen das» den kategorischen Imperativ gewagt und nach Kants Maxime Menschen in Not aufgenommen. Wie stehen Sie aus heutiger Sicht dazu?
 
Sie wurde, wie jeder Politiker, der an die Macht kommt, in mehr oder weniger tragische geschichtliche Konflikte hineingeschleudert und mußte entscheiden. In der Politik gibt es keine idealen, makellosen Lösungen. Soll man die Flüchtlinge im Mittelmeer absaufen lassen? Soll man sie an der Grenze abknallen, wie manche Zyniker erwägen? Oder soll man sie aufnehmen? Was ist richtig, was ist der größere Fehler, was der kleinere, was der unverzeihliche? Man verwendet seine ganze moralische und geistige Kraft darauf, wenigstens nur den weniger großen Fehler zu machen. Nach meiner Einschätzung hat sie in fast allen Konflikten, richtig entschieden. – Ausgenommen, wohlgemerkt, die Energiewende, die ich für «ja-panisch» im Sinne von Panik hielt.

 

 Angela Merkel ist bezüglich der Flüchtlinge wohl auch einem historischen Reflex gefolgt. Aber viele Deutsche reagieren anders und zerreissen sie in der Luft.
 
Das sind die deutschen Angstbeisser. Es scheint ein ökonomisches Naturgesetz zu geben, wonach mit dem Wohlstand die Angst wächst, ihn zu verlieren. Arme Leute haben keine Angst vor der Verarmung, aber Wohlstand entmenschlicht die Leute im Sinne des Egoismus.



 Aber das Phänomen der AfD geht auch eng zusammen mit der Wende.

Ja. Das eine sind die «Linksalternaiven», das andere die «Rechtsalternaiven». Die gehören, wie man bei den letzten Wahlen in Berlin gesehen hat, zusammen, denn in Ostberlin haben sie gemeinsam um die 55 Prozent aller Stimmen geholt.



 Deutschland ist international ein Rückgrad einer freien demokratischen Wertegesellschaft. Wo steht Deutschland heute diesbezüglich?
 
In einer einheitlichen demokratischen Werte-gesellschaft, die von Angstbeisser-Egoismus geschüttelt ist. Die Leute, die beissen, sind aber keine Nazis, keine Menschenfresser. Aber die hysterische Angst treibt sie in diese Haltung, für die sie sich eigentlich schämen, und die sie trotzdem wütend verteidigen.



 Bewundern Sie die Stärke, mit der Angela Merkel ihren Entscheid trotz aller möglichen Kritik durchzieht?
 
Ganz und gar, ohne Wenn und Aber. Ich halte die Merkel für ein großes Glück für die Deutschen und die Welt. Noch besser als sie wäre allerdings vielleicht eine Bundeskanzlerin, die Angela Churchill heisst. Churchill war ein knallharter Realist in Bezug auf die Einschätzung von Hitler-Deutschland, anders als alle rund um ihn im eigenen wie in anderen Ländern. Er hat den Krieg gegen Hitler glänzend, blutig und teuer gewonnen. Dann wurde er abgewählt, was nicht nur undankbar und kurzsichtig, sondern eine schreckliche Dummheit war, denn es folgte dem heißen der Kalte Krieg.



Am Beispiel Merkel zeigt sich doch das Dilemma der Demokratie. Sie mag mit Vernunft das richtige tun, bringt die Mehrheit gegen sich und riskiert ihre Abwahl bei den kommenden Bundestagswahlen.
 
Das wollen wir noch mal sehn, ob die Mehrheit gegen Merkels Politik ist! Da ist, glaube ich, noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. Aber ja, das ist das Ur-Elend, der eingeborene Fehler jeder Demokratie: Man muss auch vom Pack gewählt werden, um hoffentlich etwas Gutes zu bewirken.



 Trotzdem ist sie unpopulistisch geblieben.

Ja, das ist eine grosse moralische Leistung von ihr. Und ohne viele Worte: Ich bin für die Merkel.



 Was wird passieren in den kommenden Monaten, nachdem die Flüchtlinge nun weniger werden?

Als Prophet bin ich nicht zu brauchen. Aber ich weiss, dass das super reiche Deutschland natürlich lässig in Lage wäre, noch fünfmal so viele Flüchtlinge aufzunehmen. Das ist nicht nur eine Frage des Geldbeutels, sondern insbesondere der Haltung. Denken sie an die 14 Millionen Flüchtlinge, die Deutschland nach dem Krieg aufgenommen hat, als es zerbombt und wirtschaftlich total am Boden war. Ich finde diese hysterische Panik vor den Flüchtlingen unwürdig.



Sie sagen dies wohl auch mit dem persönlichen Hintergrund eines Davongekommenen: Ihr Vater war Jude, Kommunist, kämpfte im Widerstand gegen die Nazis und wurde in Auschwitz ermordet. In Ihrem Buch schreiben Sie in diesem Zusammenhang von einem «Grundkummer» in Ihrem Leben und letztlich ist dieser Ausgangspunkt für die Biografie gewesen.

Ja, dieser Kummer um meinen ermordeten Vater stand immer im Zentrum meines Lebens. Dabei hat mein Vater mir immer geholfen, auch, als ich 1976 nach zwölf Jahren Schnauzehalten in Köln auf der Bühne stand. Was außer mir keiner der 8000 Konzertbesucher sehen konnte: Gerade an dem Tag, dem 13. November, es war zufällig sein Geburtstag, kam mein Vater auf der Auschwitz-Wolke über das Rheinland. Und er kam zu mir runter und setzte sich, als Äffchen verkleidet, auf mein Harmonium. Dort saß er die ganzen viereinhalb Stunden und sagte: «Mein Junge, natürlich musst Du zu weit gehen. Aber gehe nicht zu weit zu weit! Sing nicht die ‹Stasi-Ballade›! Singe nicht ‹In China hinter der Mauer›! Singe nicht den ‹Jena Memphis Fan Club Blues›! Singe solche Lieder, dass sie dich wieder reinlassen müssen – diese Schweinehunde.»



 Sie konnten widerstehen, obwohl das Publikum sich danach sehnte.

 Ja, das Publikum klatschte, ein rauschartiger Erfolg für einen, der zehn Jahre in seiner Wohnung eingesperrt war. Und die Verführung war riesengross, sich zu spreizen mit den allerstärksten politischen Spottliedern. Wer will in dieser Situation nicht gerne angeben! Aber es wäre falsch gewesen. Denn wenn ich in Köln nicht nur zu weit, sondern zu weit zu weit gegangen wäre, dann hätten die 13 berühmten Schriftstellerkollegen in Ostberlin Schiss gekriegt und hätten nicht diese Petition formuliert und unterschrieben, was den Widerstand in Gang gesetzt hat.



Das Judentum Ihres Vaters haben Sie für sich selbst erst im zweiten Teil ihres Leben Ende der 1980er-Jahre mit Arno Lustiger und letztlich auch der Arbeit an den Gesängen von Isaak Katzenelson entdeckt, wie Sie in Ihrer Biografie schreiben. Was ist daraus geworden?

Ich bin weniger ein Jude und mehr ein Israeli. Bei vielen anderen ist das umgekehrt. Mir ist es eine tiefe Freude und Genugtuung, dass die Juden endlich einen Staat haben! Für diese Meinung bin ich allerdings schon angeschrien worden – nämlich von einem Juden, Marek Edelmann. Der sagte: «In Israel, das sind doch keine Juden! Das sind Israelis!» Doch ich habe so viele Freunde in Israel wie sonst nirgends.




 In Ihrer Sozialisierung hat das jüdische Element durch den Verlust Ihres Vaters aber gefehlt. Eine Art Phantomschmerz?

Ich wusste immer, dass ich Jude bin, mit und ohne den Segen der Halacha, das zeigen auch einige frühe Gedichte von mir. Aber es war nicht mein Hauptthema. Ich habe mich quasi selbst verjudet. Mein Freund, der Historiker Arno Lustiger, hat mich in dieses große Poem von Katzenelson reingelockt; er interessierte sich für den jüdischen Widerstand. Er wollte dokumentieren, dass es Juden gab, die gekämpft haben und nicht nur Opfer waren, die abgeschlachtet wurden. Er wollte, dass ich das letzte Kapitel für seine Zwecke übersetze, aber ich habe dann, ohne ihn zu fragen, auf eigene Faust den ganzen Gesang, ein dickes Buch, ins Deutsche gebracht. Und in meinem Kopf und Herzen waren all die vielen Anekdoten, die meine Mutter mir als Kind über die Jüdischkeit meines Vater erzählt hat – ohne diese wäre ich wahrscheinlich nicht so sensibilisiert gewesen. Wie schon gesagt: Man erkennt nur das, was man kennt.



Ihre Biografie ist dicht komponiert, voller Details und sich schliessender Kreise. Haben Sie beim Schreiben der unzähligen Episoden und Geschichten, die in Ihrer Biografie erscheinen, auf Ihre Tagebücher zurückgegriffen?

Nein, überhaupt nicht. Aber meine Frau Pamela hat anhand der Tagebücher das verifiziert, was ich für die Biografie geschrieben hatte. Und kam dann zu mir und sagte: Wolf, das stimmt so nicht, in deinen Tagebüchern steht das anders. Also habe ich solche Stellen entsprechend umgeschrieben. Je öfter man eine Geschichte erzählt, desto grösser das Risiko, dass man sie mit der Zeit abändert. Das passiert nicht nur mir.



 Beim Lesen des Buches erhält man also nicht umsonst den Eindruck, dass all die Geschichten zuerst einmal erzählt und dann erst niedergeschrieben wurden.

 
Ja. Und das ewige Erzählen hat den Vorteil, dass sich die Geschichten im Gedächtnis verankern. Aber eben auch den Nachteil, dass sich die Geschichten, je länger sie her sind, desto mehr von der Wirklichkeit entfernen können. Nebst Pamela und den Tagebüchern gab es aber auch eine zweite Kontrollinstanz, nämlich die Akten der Staatssicherheit. Die Genossen haben überhaupt nicht gelogen, sondern hatten den Ehrgeiz, alles so genau wie möglich aufzuschreiben. Es gab zwar ab und an mal kleine Fehler, zum Beispiel das Fehlzitat von mir: «Die Stasi ist mein Henkersmann» statt «Eckermann». Wenn man nicht weiss, dass Goethe einen Sekretär namens Eckermann hatte, kann man das beim Abschreiben vom Tonband schon mal falsch verstehen …



 «Warte nicht auf bessere Zeiten!» erzählt von einem gelebten Leben. Im November werden Sie 80 und feiern den Geburtstag natürlich auf der Bühne in «Ihrem» Berliner Ensemble.  Zieht es den Hamburger «Fischkopf» nun doch wieder zurück in die Wahlheimat Berlin, zu Brecht?

 
Ihre Frage zeigt mir, dass Sie die Antwort schon wissen.

 

Foto:

Wolf Biermann (c) t-online.de

 

Info: Abdruck aus tachles, dem jüdischen Wochenmagazin vom 7. Oktober 2016

Wolf Biermann «Warte nicht auf bessere Zeiten»,
Propylän Verlag, 2016. Dazu parallel eine Auswahl von 120 Gedichten: «Im Bernstein der Balladen»,
Propylän Verlag, 2016. Im November erscheint die CD «… paar eckige Runden drehn!», Wolf Biermann & Pamela Biermann und ZentralQuartett – Biermann meets Jazz!