Im Neoliberalismus kämpfen Arme gegen Arme

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Aus dem ersten Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung hat das Kanzleramt wichtige Passagen gestrichen.


Das berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ am letzten Donnerstag. Beispielsweise fehlten folgende Sätze: „Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von einer großen Zahl von Menschen mit höherem Einkommen unterstützt wird.“ Oder: „Personen mit geringem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie Erfahrungen machen, dass sich Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen interessiert.“ Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach reagierte auf die Meldung verärgert. Die gestrichenen Absätze beschrieben doch exakt das ungelöste Problem: „Es ist eine der wichtigsten Facetten von Armut. Der Arme hat keine Stimme.“

Diese Stimme wird ihm einerseits dadurch verweigert, indem sie übertönt wird, andererseits nimmt der Arme sein Recht, die Stimme gegen vermutetes und tatsächliches Unrecht zu erheben, längst nicht mehr wahr. Der Neoliberalismus hat es - leider auch mit der Hilfe von Vertretern der Werktätigen - geschafft, Armut als Versagen des Einzelnen zu diskreditieren. Arbeiter und Angestellte sollen sich als Arbeitnehmer fühlen - als Partner der Arbeitgeber. Und falls Unmut aufkommt, sollen sie nicht ihre Interessen wahrnehmen, sondern auf einen Feind in den eigenen Reihen einschlagen. Nämlich auf den, der ganz unten rangiert und bereits am Boden liegt.

Arbeiter und Angestellte, denen man einredet, Arbeitnehmer zu sein, erweisen sich jedoch nicht erst in den Zeiten des Neoliberalismus als empfänglich für schlichte politische Rezepte mit autoritären und faschistischen Inhalten, die im Kern gegen ihre eigenen Interessen gerichtet sind.

Siegfried Kracauer hat dies in seiner 1930 erschienenen Studie „Die Angestellten“ nachgewiesen. Die exemplarischen Milieuschilderungen belegen, dass sich die Angehörigen der besitzlosen Klasse (also des Proletariats, das über kein Eigentum an Produktionsmitteln und über kein Finanzkapital verfügt und folglich keine Entscheidungen treffen kann) mit einem Opiumderivat über ihre Situation hinwegtrösten: Sie sehen auf die hinunter, denen es vermeintlich (noch) schlechter geht als ihnen und träumen davon, irgendwann Kapitalist zu werden. Gleichzeitig versuchen sie alles, um ihre klein(st)bürgerliche Position gegen den Abstieg zu verteidigen (letzterer eine unvermeidbare Folge beim Fortschritt der Produktivkräfte). Diesen Kampf gegen den Abstieg begreifen sie jedoch nicht als Klassenkampf gegen die Herrschenden, sondern als aggressive Diffamierung jener, die sich auf der untersten Stufe der Elendsleiter befinden (Arbeitslose, Geflüchtete, Fremde generell). Ihnen verweigern sie die Solidarität.

Kracauers journalistische Recherche deckte sich weitgehend mit einer Untersuchung, die Erich Fromm, Anna Hartoch, Herta Herzog, Hilde Weiß und Ernst Schachtel von der Abteilung Sozialpsychologie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung 1929/1930 durchführten (auf der Basis von ca. 700 ausgefüllten Fragebögen) und die zu ähnlichen Ergebnissen gelangte. Sie wurde unter dem Titel „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs“ erst 1980 in deutscher Sprache publiziert.

In der Gegenwart spitzen sich diese Tendenzen noch zu: Statt der Globalisierung des Kapitals den Internationalismus der Werktätigen entgegenzusetzen, entdecken die Lohnabhängigen an sich selbst Defizite („Sind wir zukunftsfähig angesichts der Herausforderungen von Digitalisierung und Globalisierung?“), die ihnen die wirtschaftlich Mächtigen einreden.

Allerdings beschrieben bereits Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ vom Februar 1848 die reaktionäre Seite speziell des deutschen Arbeiters bzw. des deutschen Sozialisten: „Er proklamierte die deutsche Nation als die normale Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen ... Er zog die letzte Konsequenz, indem er direkt gegen die »rohdestruktive« Richtung des Kommunismus auftrat und seine unparteiische Erhabenheit über alle Klassenkämpfe verkündete...“.

Man kann angesichts einer solchen Entwicklung durchaus von einer Erbsünde der Sozialdemokratie sprechen, was jedoch die Schröder, Müntefering, Gabriel, Nahles, Steinmeier etc. nicht entlastet.

Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass Marx bereits 1880 in einem „Fragebogen für Arbeiter“ den Begriff des Proletariers nicht auf den so genannten „Malocher“ reduzierte. Er verstand darunter Arbeiter und Angestellte unterschiedlicher Qualifikation und Lohneinkommen, denen die Nichtteilhabe an den Produktionsmitteln gemeinsam war (Marx/Engels, Werke, Band 19).

Der durch die Machtverhältnisse von seiner Arbeit entfremdete Mensch spürt die Widersprüche einer kapitalistisch orientierten Gesellschaft sehr wohl (das Gefühl einer allgemeinen Unzufriedenheit ist dafür typisch). Aber er muss, will er diese Widersprüche beseitigen, ehrlich sein gegenüber sich selbst. Nur dann ist er davor gefeit, dass sein Kopf nicht der Ideologie der herrschenden Verhältnisse gehört, seine Arbeitskraft nicht dem Kapital, sein erarbeitetes Vermögen nicht den Finanzspekulanten, sein Leben und seine Gesundheit nicht der Nahrungsmittel- und Medizinindustrie, sein Privatleben nicht Google, Facebook und anderen asozialen Netzwerken.

Auf Erlösung von außen darf er nicht hoffen, schon gar nicht von den braunen Kolonnen des Kapitals (AfD, Pegida, Dritter Weg, Querfront etc.). Nein, er muss sich selbst befreien! Das geht nicht ohne Erkenntnis der tatsächlichen Situation. Angesichts der allgegenwärtigen Manipulationsversuche erscheint mir das als der schwierigste Teil des Wegs.

 

Foto: Spießer (c) Welt.de