Falsche Antworten auf die Provokationen des rechten Milieus

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Nach dem Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt waren für AfD-Politiker die Schuldigen schnell ausgemacht.


Nämlich Flüchtlinge, die sich in Deutschland Asyl erschleichen und mordend durch das Land ziehen. Doch die Wirklichkeit ist komplexer als die schlichten Vorurteile der selbsternannten schwarz-braunen Alternativlinge. Denn diese Wirklichkeit ist ein getreues Abbild der gesamten Lebensverhältnisse.
Und exakt dieser Umgang mit den Realitäten erscheint mir als das Grundproblem der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion. Dies gilt für die Behandlung der Flüchtlingsfrage, aber auch hinsichtlich des Bewusstseinsstands von Bürgern/Bürgerinnen, die nicht im Verdacht stehen, für die Hetze von AfD und Konsorten (die CSU eingeschlossen) anfällig zu sein.

Während das rechte/rechtsradikale Milieu den islamistischen Terror in seinen diversen Vorurteils-Schubladen sortiert, findet auf der anderen Seite, also bei den Demokraten unterschiedlichster Couleur, ebenfalls eine Vereinfachung statt. Diese ist von völlig anderer Qualität, das heißt, sie verfügt über eine solche. Jedoch neigt sie dazu, ihre eigene Humanität als ethisches Element, das jedem Menschen innewohnt, vorauszusetzen.

Wer aus Syrien, dem Irak oder aus Afghanistan geflohen ist, möchte überleben; idealerweise in einem Land, das weltweit für seinen vermeintlichen Wohlstand bekannt ist. Mit der Flucht vor Elend und Tod wirft der Mensch jedoch nicht automatisch das über Bord, was sein bisheriges Leben bestimmte. Wer in den Diktaturen des Nahen und Mittleren Ostens aufgewachsen ist, verfügt über ein vergleichsweises schlichtes, gar reaktionäres Verständnis von Staat, Herrschaft, Bildung, sozialer Gemeinschaft und Religion (Islam bedeutet Hingabe – nämlich die des Menschen unter Gottes Gesetze, die nachweislich aus menschlichen Federn stammen!). Auf die politisch Verfolgten wird das nicht zutreffen, deswegen klammere ich sie zunächst aus.

Mutmaßlich wird nur wenigen bei der Einreise nach Deutschland bewusst gewesen sein, dass sie ihre bisherige Lebensart werden aufgeben müssen. Auch der aufgeklärte Teil der Mehrheitsgesellschaft erwartet von Fremden (zumindest unausgesprochen) die Bereitschaft zum Neubeginn, zu einer inneren Umkehr. Und zwar nicht zurück in die Länder und deren Sitten, denen sie entkommen konnten, sondern hin zu einer Ordnung, die nicht Hingabe an metaphysische Instanzen und historisch überlebte Gesellschaftsverhältnisse bedeutet, sondern die eine vollständige Teilhabe an der Wirklichkeit des Gastlands erfordert (Sprache, säkulares Religionsverständnis, Gleichberechtigung von Frau und Mann etc.).

Das ist nicht erst seit der westeuropäischen (säkularen) Aufklärung so, das ist sogar zentraler Bestandteil des jüdisch-christlichen Denkens seit mehr als 3000 Jahren, das von Umkehr (gleich Aufgabe des Alten und Annahme des Neuen) und der aus ihm hervorgegangenen Kultur. Eine Gemeinschaft, deren Mitglieder aus vielen Nationen und Kulturen (Religionen) stammen, ist auf einen bestimmbaren Grad von Einlassung angewiesen, um funktionieren zu können. Dabei kann nur ein gesellschaftliches Bewusstsein, das sich als das Ergebnis sämtlicher bisheriger Entwicklungsstadien versteht, Maßstab sein. Entwicklungen nach Rückwärts dürfen weder politischen Parteien noch religiösen Gruppen erlaubt sein.

Wenn es einen kardinalen Fehler bei der Lösung der Flüchtlingsfrage gab und gibt, dann ist es die den Ankommenden nicht gestellte und in ihrer Bedeutung nicht erläuterte Doppelfrage „Schafft ihr das? Ist euch klar, worauf ihr euch einlassen wollt und müsst?“. Denn der Appell an die humane Gesinnung allein (Gesinnungsethik) reicht nicht aus. Neben sie muss die Verantwortung für die Sicherung der demokratischen und sozialen Errungenschaften dieses Landes treten (Verantwortungsethik). Das Nichtstellen dieser Fragen stellt eine Vereinfachung dar, die angesichts der Versuche des rechten Blocks, die Wirklichkeit zu simplifizieren, keine Lösungen eröffnet.

Ich habe seit Anfang der 90er Jahre immer wieder Kontakte gehabt mit politischen Flüchtlingen aus dem Iran. Die älteren unter ihnen haben gegen zwei politische Systeme gekämpft, gegen den Schah und gegen die Mullahs. Einer von den jüngeren, der vor Chomeini floh und seit über 30 Jahren in Frankfurt lebt, ich nenne ihn hier Massoud, antwortete mir im Herbst 2015 auf meine Fragen zu den syrischen Flüchtlingen:

„Die meisten wissen kaum etwas über Deutschland. Sie vertrauen den Parolen, die vor allem auf Facebook verbreitet werden. Sie werden es hier sehr schwer haben. Im Gegensatz zum Iran ist dort das Schulsystem schlecht. Es gibt viele Analphabeten. Eine Berufsausbildung für Handwerker und Kaufleute wie in Deutschland existiert nicht. Man wird angelernt und irgendwann ist man Bäcker, Maurer, Schlosser, Schneider oder Schuster. Die guten Schulen und die Universitäten stehen faktisch nur den besseren Kreisen offen, weil die das Geld dafür aufbringen können. Die Oberschicht ist sehr gut ausgebildet. Syrische Ärzte und Ingenieure genießen auch im Ausland einen exzellenten Ruf. Assad selbst ist ursprünglich Augenarzt. Aus der Oberschicht entstammen auch die meisten politischen Flüchtlinge. Sie orientieren sich meistens an westlichen Maßstäben. Vielfach wurden Sie in Gefängnissen gefoltert. Die einfachen Menschen leben jedoch in der Tradition des Islam, den sie nicht hinterfragen und sind obrigkeitshörig. Die Männer erziehen ihre Söhne zu Paschas und kujonieren ihre Frauen und Töchter. Mir tun die Kinder, die jetzt nach Deutschland kommen, besonders leid. Die hätten eine Chance verdient. Aber dazu müsste der Staat massiv in die Erziehung eingreifen. Doch das wird er nicht tun. Vor 40, 50 Jahren war er schon nicht in der Lage, die Türken zum Erlernen der deutschen Sprache zu verpflichten und die Frauen daran zu erinnern, dass in der Türkei ein Kopftuchverbot in der Öffentlichkeit herrschte und dass sie sich bitteschön auch hier daran halten sollten. Die Deutschen, die so gern den Schulmeister spielen, sind auch manchmal fürchterlich konfliktscheu, sogar feige.“

Massoud verabscheut Vereinfachungen, er beschreibt die Konflikte, die er sieht, und skizziert Lösungsmöglichkeiten. Er verweist darauf, dass Menschen nicht von vornherein gut oder böse sind, sondern Produkte von Bildung, Erziehung, Aufklärung sowie von wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen. Ohne ein solches Bewusstsein von Komplexität wird die Flüchtlingsfrage nicht human lösbar sein.

 

Foto: (c)  Beatrice Achaleke