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Kategorie: Zeitgeschehen
Gedanken über den ersten Kanzler der Bundesrepublik

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Bertolt Brecht schrieb 1949 ein „Spottlied“ betiteltes Gedicht über Kurt Schumacher und Konrad Adenauer:

„Hoch zu Bonn am Rheine sitzen zwei kleine
Böse alte Männer, die die Welt nicht mehr verstehn.
Zwei böse Greise, listig und leise
Möchten gern das Rad der Zeit nochmals nach rückwärts drehn.


Schumacher, Schumacher, dein Schuh ist zu klein
In den kommt ja Deutschland gar nicht hinein.
Adenauer, Adenauer, zeig deine Hand
Um dreißig Silberlinge verkaufst du unser Land.


Hoch zu Bonn am Rheine träumen zwei kleine
Böse alte Männer einen Traum von Blut und Stahl.
Zwei böse Greise, listig und leise
Kochten gern ihr Süpplein am Weltbrand noch einmal.“




Vor 50 Jahren, am 19. April 1967, starb Konrad Adenauer im Alter von 91 Jahren. Von 1949 bis 1963 war der CDU-Politiker der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Für die einen ist es auch in der Rückschau eine glückliche Fügung gewesen, dass nach der Katastrohe von 1945 in den drei Westzonen ein Mann zur Verfügung stand, der - vom nationalsozialistischen Herrschaftssystem unbelastet - die Integration „Trizonesiens“ in den Westen zuverlässig durchzusetzen vermochte. Für die anderen erschien Adenauer immer als die Fortsetzung eines Verhängnisses, das den Nazi-Staat erst möglich gemacht hatte.


Der ehemalige Kölner Oberbürgermeister hatte das Dritte Reich in passiver Opposition überlebt. Aus seinen Differenzen mit der braunen Partei schöpfte er die Souveränität, die ihm gegenüber den Westmächten eine zunehmende Eigenständigkeit erlaubte. Denn er fühlte sich nicht als Kriegsverlierer, sondern als Partner.
Auch im Umgang mit den eigenen Landsleuten praktizierte er dieselbe Unabhängigkeit, die von vielen als skrupellose politische Taktik empfunden wurde und es zumeist auch war. Adenauer erkannte schnell die Stärke seiner Positionen, die auf eine Akzeptanz der amerikanischen Nachkriegsziele hinausliefen. Somit konnte er seine persönlichen Anschauungen, die von autoritär-demokratischen Prinzipien, vom Richtighalten des kapitalistischen Systems und von einer rheinisch-katholischen Mentalität getragen waren, umsetzen. Seine politische Sicht wurde zum offiziellen Programm des westdeutschen Staats. Sämtliche konkurrierenden Ansätze, auch die aus seiner eigenen Partei (z.B. das Ahlener Programm mit seinen Anlehnungen aus der katholischen Soziallehre), wischte er vom Tisch. Dabei unterließ er es nicht, auf angebliche alliierte Vorbehalte zu verweisen, die einem zu großzügigen Sozialstaat gegenüber kritisch eingestellt seien. Das traf jedoch nur dann zu, wenn die Westmächte eine kommunistische Einflussnahme befürchteten. So war es kein Wunder, dass die Programme von SPD und der anfangs in den Industriezentren noch starken KPD verworfen wurden und zur politischen Bedeutungslosigkeit verurteilt waren.
Allerdings war auch die konservative Haltung des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher nicht dazu angetan, einen wirklichen Neubeginn zu erwägen. Schumacher und der rechte Flügel der SPD wollten sich nicht dem Verdacht aussetzen, einer sozialistisch-kommunistischen Einheitsfront im Westen das Wort zu reden. Die von der Sowjet Union verordnete Einheitspartei in ihrer Besatzungszone erwies sich in den Westzonen als abschreckend.


Während in Westdeutschland die früheren Besitz-Verhältnisse restauriert wurden, begann man in Ostdeutschland damit, die alten Strukturen zu zerstören. So wurden Großindustrie und der Großgrundbesitz enteignet und das gesamte geistig-wirtschaftlich-politische Leben nach sowjetischem Vorbild ausgerichtet. Der in Westdeutschland staatlich gewünschte und direkt unterstützte Profitegoismus konzentrierte alle Energien auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau. In Ostdeutschland hingegen lähmte parteilicher und bürokratischer Dirigismus nahezu alle persönlichen Initiativen.


Das westdeutsche Wirtschaftswunder wurde zu einem Zukunftsversprechen an alle. Es leuchtete unübersehbar über die west-östliche Demarkationslinie hinweg und wurde zur großen Versuchung für jeden, der sich vor die Wahl zwischen östlicher Armut und westlichen Komforts gestellt sah. Sie wurde zum wichtigsten Instrument Adenauers, Ostdeutschland in die Defensive zu drängen und es zur Schließung der Westgrenze zu zwingen.


Alle anderen Positionen Adenauers ergaben sich mit mehr oder weniger großer Zwangsläufigkeit aus diesem Wirtschaftswunder-Prinzip, das von seinem Minister Ludwig Ehrhard als „Wohlstand für alle“ propagiert wurde. Die wirtschaftliche Stärke nutze Adenauer ebenso erfolgreich, um Westdeutschland einen anerkannten Platz und politisches Gewicht im westlichen Lager zu verschaffen.


Seine Positionen verschmolzen in der ersten Hälfte der 50er Jahre zu einer geschlossenen aggressiven Weltanschauung. Ihre Hauptbestandteile waren Klerikalismus, Anerkennung der US-amerikanischen Hegemonie, europäische Einigung im Sinn einer Strategie des sich neu etablierenden Kapitalismus, Nationalismus mit Distanz zur NS-Vergangenheit, Militarismus mit westlichen Vorzeichen und antisozialistischer Parlamentarismus. Im Dienste einer kompromisslosen Politik gegenüber der Sowjet Union wurden sie zu kalkulierten Bestandteilen einer antikommunistischen Strategie. Diese verhinderte jede sachliche Auseinandersetzung über die bestmögliche Zukunft Deutschlands. Das geistige Vakuum, das Hitler hinterlassen hatte, war nur den linken Kritikern, nicht zuletzt der sich neu formierenden Schriftstellergeneration (zum Beispiel der Gruppe 47) bewusst. Bonns Provinzialismus, die Krähwinkelei und die um sich greifende intellektuelle Armut wurden zur Kehrseite des Wirtschaftswunders, was aber bis zum Ende der 60er Jahre nur wenige störte.


Der frühe Wechsel der amerikanischen Deutschlandpolitik vom Morgenthau-Plan hin zum Marshall-Plan, also zur kalkuliert eingesetzten Wirtschaftshilfe für Westeuropa und Westdeutschland, ermöglichte das Wirtschaftswunder, dem die Bundesrepublik seine Weltgeltung zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verdankt. Er machte das Land zugleich zur Partei im Nord-Süd-Konflikt auf der Seite der reichen gegen die arme Welt. Auch die europäische Einigung, die eindeutig unter wirtschaftlichen Vorzeichen (Montanunion, EWG) stand, ist so zu bewerten. Adenauer und sein Staat waren immer nur zu einem Kleineuropa willens und fähig. Wenn in den 50er und 60er Jahren in Bonn von »Europa« die Rede war, handelte es sich geopolitisch nur um Westeuropa und kulturpolitisch nur um das vorsozialistische Europa.


Obwohl man Adenauer keinen Nationalismus vorwerfen konnte (bereits während der Weimarer Zeit stand er Bestrebungen zur Errichtung eines unabhängigen Rheinstaats und eines ebenfalls unabhängigen Saargebiets nahe), nahm er auf der anderen Seite den Nationalismus der Ostflüchtlinge, speziell den der Vertriebenen, hin. Dieser Neo-Revanchismus wurde sogar als Kalkül wohlüberlegt in der Innenpolitik angewandt. Adenauer gelang es, die Flüchtlinge nach rückwärts zu orientieren, indem er ihnen die Rückkehr in die alte Heimat in Aussicht stellte. So konnte er die Vertriebenen schrittweise integrieren und sie gleichzeitig als ein Reservoir zuverlässiger kalter Krieger erhalten.


Konrad Adenauers so genannte Kanzlerdemokratie enteignete den demokratischen Gedanken, in dem sie auf äußern Schein setzte und ein inneres demokratisches Leben einschließlich aller parlamentarischen Entscheidungsmöglichkeiten so weit wie möglich ausschloss. Ihre Kulissenhaftigkeit wurde in der SPIEGEL-Affäre vom Oktober 1962 besonders deutlich. Diese leitete Adenauers politischen Niedergang ein.


Adenauers lange Regierungszeit war zudem gekennzeichnet durch eine Personalpolitik, die wenig Anstand zeigte gegenüber den Opfern des Nazi-Staats. Der NS-Jurist Globke konnte erneut Karriere machen, der linientreue Wehrmachtsgeneral Reinhard Gehlen wurde Chef des Bundesnachrichtendienstes. Ebenso war für andere Juristen, Verwaltungsfachleute und Offiziere ein früher Eintritt in die NSDAP kein Hindernis, um auch im Adenauer-Staat erfolgreich sein zu können.


Auch fünfzig Jahre nach Adenauers Tod besteht kein Anlass, ihn zum großen Staatsmann zu stilisieren.



Foto: Wahlplakat von 1957, dem Jahr der absoluten Mehrheit für die CDU

Info: Das Gedicht  © Suhrkamp Verlag