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Kategorie: Zeitgeschehen
Die SPD geht derzeit einen Schritt vor und zwei Schritte zurück

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Nach den Wahlniederlagen in drei Bundesländern scheint der SPD-Vorstand Angst vor der eigenen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit bekommen zu haben.

Denn CDU und FDP haben es geschafft, dieses ethische Prinzip, ohne das eine moderne Gesellschaft nicht funktionieren kann, als zu vernachlässigendes Anliegen einer abgehängten Minderheit zu diffamieren.

Während sich die Klügeren unter den Befürwortern des Kapitalismus angesichts dessen immanenter Probleme bereits seit einigen Jahren Gedanken machen über ein bedingungsloses Grundeinkommen, negieren synthetische Politiker vom Schlag Christian Lindners (FDP) die strukturellen Probleme einer Wirtschaft, die längst nicht mehr die objektiv notwendigen Bedürfnisse befriedigt.

Denn die Wirtschaft muss dem Menschen dienen. Sie muss die lebensnotwendigen materiellen Güter ressourcenschonend produzieren und auf einen Markt bringen, zu dem jeder aktiven Zutritt hat und wo der Preis der Waren ökologischen Standards und gerechten Löhnen entspricht. Dass wir derzeit immer noch anderen Paradigmen folgen, darf nicht als Rechtfertigung dieser unhaltbaren Verhältnisse hingenommen werden. Vielmehr müssen diese mit unserer Empörung und unseren Gegenentwürfen beantwortet werden.

Hierzu einige typische Beispiele:

Der Volkswagen-Konzern hat mit der bewussten Kundentäuschung bei seinen Dieselfahrzeugen Leib und Leben unzähliger Menschen gefährdet. Es wäre gerecht, wenn er die europäischen Käufer dieser Produkte genau so entschädigen würde, wie er es in den USA wegen der dortigen Gesetze tun musste. Das führte zwangsläufig zur Insolvenz des Unternehmens. Unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen, also dem Festhalten am Verbrennungsmotor, wäre es nicht sanierungsfähig.

Die andere Seite der Gerechtigkeit wären die über 600.000 direkt Beschäftigten, die mehrheitlich von der einwandfreien Qualität ihrer Erzeugnisse überzeugt waren. Eine humane Gesellschaft dürfte sie, die zu den Hauptverlierern zählten, nicht dem Elend überlassen.
Soziale Gerechtigkeit ist bei genauer Betrachtung das Grundprinzip einer demokratischen Gesellschaft. Und keineswegs die seltene Ausnahme von einer Regel.
Für die anderen Automobilbauer und ihre Mitarbeiter würde selbstverständlich Ähnliches gelten. Und das nicht nur wegen des Dieselmotors, sondern auch wegen des mit Rücksicht auf die Volksgesundheit unumgänglichen Baustopps für energieverschwendende und Gift emittierende Fahrzeuge.

Auch auf die vermeintliche Job-Maschine Frankfurter Flughafen, dem die Politik höchste Relevanz innerhalb der deutschen Verkehrsstruktur zubilligt, müsste das janusköpfige Gerechtigkeitsprinzip angewendet werden:
Würde Fraport den ca. 200.000 Lärm- und Emissionsgeschädigten jedes Jahr eine angemessene Entschädigung für die erlittene Körperverletzung zahlen müssen (ich kalkuliere anhand von Lebensversicherungstabellen mit 10.000 Euro), könnte der Flugbetrieb weder im bisherigen Ausmaß noch unter privatwirtschaftlichen Prämissen aufrechterhalten werden.
Die Kehrseite: Mindestens 100.000 Menschen würden vor Ort sowie bei Zulieferern ihre Arbeitsstellen verlieren und wären auf die Solidarität der anderen, also auf Gerechtigkeit, angewiesen. Für andere Großflughäfen würde Ähnliches gelten.

Durch die Digitalisierung von immer mehr Arbeitsprozessen werden nach aktuellen Prognosen Hunderttausende hochqualifizierter Mitarbeiter in einem Zeitraum von 20 Jahren überflüssig. Ich denke beispielsweise an die Drucker und Setzer, die die Kunst des verstehenden Lesens und Schreibens häufig besser beherrschten als manche Akademiker und die über einige Jahrzehnte als die Aristokraten des Proletariats galten. Sie gehören bereits heute der Vergangenheit an. Andere Spezialisten werden ihnen auf diesem Weg folgen.
Ohne ein soziales Regelwerk, das mehr als das Existenzminium zu garantieren hätte, bräche die Gesellschaft auseinander.

Das gilt für nahezu alle Bereiche der Wirtschaft, neben den erwähnten Branchen insbesondere für den Gesundheitsbereich, der zu einem Markt verkommen ist. Ebenso für das Wohnen, das als elementares Lebensbedürfnis jenseits sämtlicher profitwirtschaftlicher Spekulationen stehen müsste.

Der Kapitalismus lebt von hoher Arbeitsproduktivität. Damit stößt er aber zunehmend an eine Grenze, ab welcher die Verteilung der Erträge nach neuen, völlig anderen Kriterien erfolgen muss. Diese kritische Linie beginnt, wenn die eine Hälfte der Bevölkerung arbeitet und mehr oder weniger gerecht entlohnt wird, die andere aber zur Passivität verdammt ist, jedoch als Konsument der Güter unverzichtbar bleibt.

Eigentlich müssten auch die Kapitalismuskritiker die Lakaien des Kapitals wählen, also CDU, CSU, FDP; AfD und die meisten grünen Landesverbände, um diesen Prozess zu beschleunigen. Denn bekanntlich ist das beste Mittel gegen Durchfall ein Abführpräparat, weil es den Körper radial reinigt. Aber der enorme Flüssigkeitsverlust hätte negative Auswirkungen auf Orientierung und Bewusstsein. Die Menschen könnten bei einer Radikalkur den Humanismus einschließlich der sozialen Gerechtigkeit schlicht vergessen. Deswegen ist weiterhin der permanente Marsch durch die Institutionen angesagt.

Kurzum: Wenn Fortschritt nicht in Profitmaximierung gemessen würde, sondern ausschließlich an der objektiven Lebensqualität jedes Bürgers, wäre die volkswirtschaftlich notwendige Umsteuerung in Produktionsprozessen ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu bewältigen. Im kleineren Maßstab ist das bereits heute verwirklicht. Etwa beim Arbeitslosengeld, bei Eingliederungsmaßnahmen und allen aus Steuermitteln finanzierten Fortbildungen.

Die Alternative zur sozialen Gerechtigkeit wäre die Rache jedes sozial Enteigneten und Zukurzgekommenen. In den USA wird das in Ansätzen bereits praktiziert; ich denke an den Verkauf von Schusswaffen an jedermann.

Es besteht also kein Anlass, sich für die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zu entschuldigen oder sich gar dafür zu schämen. Deswegen: SPD, höre auf die Stimmen deiner geistigen Großväter und Großmütter und verwechsele diese nicht mit dem Gestammel deiner frühvergreisten Funktionäre.

Foto: (c) Der Paritätische