Gedanken zum Evangelischen Kirchentag 2017 in Berlin

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Gott ist anders“ lautete der Titel eines Buches über die kritische Theologie des 20. Jahrhunderts.

Es erschien 1963, sein Verfasser war der anglikanische Bischof John A. T. Robinson. Er machte seine Leser mit den Erkenntnissen von Paul Tillich, Rudolf Bultmann, Dietrich Bonhoeffer und anderer vertraut. Also mit dem, was ein Theologe während seines Studiums lernte - aber an seine Gemeinde allenfalls in unverbindlichen Häppchen weitergeben durfte.

Dem Hamburger Pfarrer Paul Schulz, der sich und seiner Gemeinde kein Wissensverbot auferlegen wollte, wurden 1979 die Ordinationsrechte entzogen und ihm damit ein Berufsverbot erteilt. Das, was seiner Kirchenleitung als zu anstößig erschien, dokumentierte er 1977 in seinem Buch „Ist Gott eine mathematische Formel?“.

Ende der 70er Jahre diskutierten der katholische Theologe Ulrich Luz und der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide über den historischen Jesus und dessen theologischen und geschichtlichen Hintergrund. Ein Teil dieses wegweisenden Dialogs wurde als Buch unter dem Titel „Der Jude Jesus“ veröffentlicht. In progressiven protestantischen Kreisen wurde es alsbald üblich, den persönlichen christlichen Glauben neu zu definieren. Man gab vor, wie Jesus zu glauben, aber nicht an ihn.

Woran Jesus geglaubt haben könnte, lässt sich an den Schilderungen von Markus, Matthäus und Lukas, die allerdings erst drei Jahrzehnte nach seinem Tod entstanden sind, trotz vieler Widersprüche in etwa erkennen. Dabei fällt auf, dass viele Jesusworte mehr oder weniger direkte Zitate aus der Tora oder aus Büchern der Propheten sind. Das gilt auch für das Gebot der Nächstenliebe.

Jesus scheint also ein gläubiger Jude gewesen zu sein, dessen Ethik von strenger Observanz geprägt war. Unübersehbar ist seine Kritik an den herrschenden Zuständen. Diese betraf sowohl die geistliche als auch die materielle Armut. Ebenso den verbreiteten Egoismus und die Selbstgerechtigkeit. Damit setzte er sich zwischen alle Stühle. Und auf diesen saßen einerseits die Angehörigen der Priesterschaft und andererseits die Pharisäer als Vertreter einer unkritischen Volksfrömmigkeit. Erstere waren für das dogmatische Festhalten an überkommenen religiösen Regeln bekannt. Insbesondere die Gruppe der Sadduzäer tat sich dadurch hervor. Zudem paktierten sie mit der weltlichen Obrigkeit.

Jesus scheint die Traditionslinien des davidischen, vermeintlich von Gott eingesetzten israelischen Königtums als verbindliche Geschichtsdeutung akzeptiert zu haben. David wurde im spirituellen Sinn als Sohn Gottes bezeichnet. Seine rechtmäßigen Nachfahren wiederum als Söhne Davids, obwohl eine Blutsverwandtschaft nicht grundsätzlich belegbar war. Und Jesus scheint ebenso die Hoffnung der Juden vieler Generationen geteilt zu haben. Nämlich das Erwarten eines künftigen Messias, eines Sohnes Davids, als des Überwinders der religiösen und politischen Fehlentwicklungen der letzten Jahrhunderte.

Der Glaube der Christen bewegt sich um die Person und die Aussagen Jesu. Unabhängig davon, ob sie ihn als Propheten eines Reiches Gottes - auch auf Erden - begreifen und seinen Glauben teilen oder ihn als verehrungswürdigen Gottessohn anerkennen, der selbst Objekt des Glaubens ist. Das Neue Testament, das ausschließlich aus Glaubenszeugnissen und keineswegs aus historischen Berichten besteht, lässt viele Interpretationen zu. Aber es vermittelt keine Gewissheiten. Denn wenn man es von seinem mythologischen Ballast befreit, wie es der Theologe Rudolf Bultmann tat, bleibt wenig mehr als die Erkenntnis Ludwig Feuerbachs: „Wie der Mensch denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott. Die Erkenntnis Gottes ist deshalb die Selbsterkenntnis des Menschen“ („Das Wesen des Christentums“).

Ein anderer Theologe, Dietrich Bonhoeffer, plädierte angesichts der Weltlichkeit Jesu für ein religionsloses Christentum. Nämlich nach den ethischen Grundsätzen des Christentums zu leben, auch wenn es Gott nicht gäbe - „etsi deus non daretur“ (so der frühe Aufklärer Hugo Grotius).

Dieser Glaube, der auf schwachen Füssen steht, weil er als Ersatz für Wissen praktiziert wird, soll nun beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin gefeiert werden. Dessen Motto „ Du siehst mich“ erweist sich bei genauem Hinsehen als eine theologische Engführung par excellence. Denn diese Stelle aus dem 1. Buch Mose (Genesis) unterstützt, ohne dass den Verantwortlichen des Protestantentreffens das klar zu sein scheint, die Projektionstheorie der Religionskritik. Der Mensch projiziert seine Hoffnungen auf eine metaphysische Ebene (einen gedachten und für wahr gehaltenen Gott), empfängt das eigene Echo und hält es für eine Bestätigung seiner Annahmen.

Auf diese Weise blendet der Kirchentag aus, was über Jesus ausgesagt werden kann. Nämlich seine radikale Infragestellung all dessen, was ist. Seine Botschaft bestand im Wesentlichen aus zugespitzter Kritik und dem Aufruf zur Umkehr. Man lese dazu beispielsweise im Lukas-Evangelium die Verse:
„Ich bin gekommen, dass ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, als brennete es schon! [...] Meinet ihr, dass ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht“ (Kapitel 12, Verse 49 und 51).

In diesem Zusammenhang fällt dem kundigen Bibelleser möglicherweise ein, dass Jesus die Händler aus dem Tempel vertrieben hat, die dieses Heiligtum zum, wie man heute sagen würde, „Point of Sale“ machen wollten. Ähnlich radikal, also die notwendigen Veränderungen in dieser Welt anmahnend, sind die Worte der Bergpredigt (Matthäus, Kapitel 5 bis 7).
Auch dort klingt an, was bereits beim Propheten Hesekiel prononciert zur Sprache kommt: „Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt“ (Hesekiel Kapitel 18, Vers 23).

Doch stattdessen feiern evangelischen Christen des Jahres 2017 offensichtlich weiterhin ihren Glauben ohne Wissen. Und sie treten dabei auch nicht über eine Schwelle, auf der Martin Luther bereits vor 500 Jahren verharrte, als er den Menschen lediglich im Spannungsfeld zwischen Werkgerechtigkeit und Gnade ortete. Der dynamische Charakter der Bibel blieb dem Reformator weitgehend verborgen. Denn diese Schriftensammlung vereinigt eine über zweitausendjährige Suche des Menschen nach dem Sinn seiner Existenz und faktisch der Suche nach sich selbst. Gott ist dabei nur die Chiffre, die irgendwann einmal aufgelöst werden muss. Altes und Neues Testament atmen durchaus etwas von jener Freiheit, die ein Mensch benötigt, nicht nur ein Christenmensch. Denn sie sind eine Anleitung zur Kritik, zum Umsturz und zur Umkehr und weit weg von jedem Pluralismus, in dem sich die Kirche seit Jahrhunderten selbst gefangen setzt.

Vor vier Jahren erschien im Theologischen Verlag Zürich, der auch und vor allem das Werk des Theologen Karl Barth herausgibt, die deutsche Übersetzung eines besonderen Bekenntnisbuches. Der niederländische evangelische Pfarrer Klaas Hendrikse nannte seine Schrift das „Manifest eines atheistischen Pfarrers“. Das Buch trägt den Haupttitel „Glauben an einen Gott, den es nicht gibt“. Mutmaßlich spielt es beim Glaubensfest in Berlin keine Rolle. Denn dort scheint die von Jesus kritisierte Selbstgerechtigkeit angesagt zu sein.

Foto: (c) Cover

Info:

Informationen zu den erwähnten Büchern

Klaas Hendrikse
Glauben an einen Gott, den es nicht gibt
Manifest eines atheistischen Pfarrers
Theologischer Verlag, Zürich 2013
Ladenpreis 22,80
ISBN 978-3-290-17663-1

John A. T. Robinson
Gott ist anders
Christian Kaiser Verlag, München 1963
Das Buch ist vergriffen.

Paul Schulz
Ist Gott eine mathematische Formel?
Ein Pfarrer im Glaubensprozess seiner Kirche
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1977
Das Buch ist vergriffen.

Lapide, Pinchas; Luz, Ulrich
Der Jude Jesus
Thesen eines Juden, Antworten eines Christen
Benziger Verlag, Zürich und Köln 1979
Das Buch ist vergriffen.