Aber eine aktuelle Studie sagt nur die halbe Wahrheit

 

Klaus Philipp Mertens

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Hat man je davon gehört, dass intensives Bücherlesen krank macht?

 

Ich kann mich daran nicht erinnern. Eine heranwachsende Generation aber scheint im Griff einer Epidemie zu sein, die mit dem unkritischen und viel zu früh einsetzenden Konsum digitaler Medien zusammenhängt. Denn laut einer vom Bundesgesundheitsministerium am 29. Mai vorgestellten Studie können Smartphones gesundheitliche Störungen bei Kindern und Jugendlichen auslösen. Die Rede ist von Bindungsstörungen zwischen Müttern, die ständig online sind, und ihren Kindern. Bei älteren Kindern wurden gehäuft Konzentrationsprobleme und eine verminderte Sprachentwicklung beobachtet. Ebenso Ernährungsstörungen (weil das Smartphone den Alltagsrhythmus bestimmt), die vielfach in Fettleibigkeit münden.

 

Hingegen scheint der intensive Gebrauch von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen sowie von Informations- und Kulturbeiträgen im Rundfunk nach wie vor keine gesundheitlichen Störungen hervorzurufen. Zugegeben: Meine Generation, die in den 50er und 60er Jahren - ab der 3. Klasse Grundschule bis zum Ende der Gymnasialzeit - die seinerzeit angesagten (Print-) Medien entdeckte, wurde von Eltern und Lehrern gewarnt vor Comic-Heften und Groschenromanen, also der so genannten Schundliteratur. Doch ich kann mich nicht erinnern, dass Sprachentwicklungs- und Konzentrationsstörungen, die es auch damals gab, sich auf die übermäßige Lektüre von Büchern oder Heftromanen zurückführen ließen. Gründe dafür waren, neben rein medizinischen Ursachen, vielmehr diverse Formen von Verwahrlosung im Elternhaus. Kinder wurden nicht angeleitet, blieben sich selbst überlassen.

Ich habe mich, ähnliche wie die meisten meiner Mitschüler, an Schundliteratur geradezu berauscht. Pete, Billy Jenkins, Tom Prox, später Kommissar X und Jerry Cotton, haben sogar dazu beigetragen, dass meine Schulaufsätze immer besser wurden. Und als ich irgendwann freiwillig auf Böll, Frisch, Grass und andere Literaten umschwenkte, empfand ich es nicht als Bruch, sondern als notwendige Fortsetzung meines literarischen Interesses.

 

Möglicherweise hängt die Beliebtheit von digitalen Medien bei Kindern und Jugendlichen, vor allem von Smartphones und Tablets, mit der Schlichtheit ihrer inhaltlichen Angebote zusammen. Im Gegensatz zu Büchern erfordern sie kein hohes Abstraktionsvermögen. Animierte Bilder ersetzen weitgehend den normalerweise geforderten Kommunikationsstandard. Sprache, die aussagefähige Sätze ermöglicht, ist eine intellektuelle Transferleistung, und sie setzt einen geschulten Verstand voraus.

 

Geschriebene Wörter sind die Weiterentwicklung der Bildsprache. Denn zur Wiedergabe vielfältiger Ereignisse reichten Zeichnungen ab einer bestimmten Stufe der Menschheitsgeschichte nicht mehr aus. Es bedurfte der Schaffung von Zeichen, welche die Bildsprache ausdrucksfähiger und allgemeingültiger machten und die vollständige Wiedergabe der gesprochenen Sprache ermöglichten.

 

Während sich beim Schreiben, Rechnen oder Zeichnen am Computer lediglich die notwendigen Hilfsmittel (Stift, Papier etc.) technisch verfeinert haben, die eigentlichen Kulturtechniken aber unverändert geblieben sind, bedeutet die vor allem in Smartphones vorfindliche Unterhaltungselektronik einen Rückschritt in die mediale Steinzeit und somit einen permanenten Kulturbruch.

Kindern und Jugendlichen wird in einer entscheidenden Lebensphase gar nicht mehr das Beherrschen des verstehenden Lesens und des formulierenden Schreibens abverlangt. Diese Defizite werden vielen später die vollständige Teilhabe am Arbeits- und Kulturleben erschweren, diese sogar verhindern. Wortgeneratoren, die das schnelle Verfassen von SMS-Texten und E-Mails vermeintlich erleichtern sollen, reduzieren das Sprachvermögen auf ein Niveau, das im krassen Gegensatz zum Informationsaustausch in einer hochkomplexen Gesellschaft steht.

 

Hinter dieser Entwicklung verbirgt sich das kommerzielle Interesse der beteiligten Industrie. Mit einem herkömmlichen, relativ lange funktionierenden PC samt Textverarbeitungs- und Kalkulationsprogrammen etc. lässt sich nicht so viel Ertrag erwirtschaften wie mit dem Wegwerfartikel Smartphone und der im inflationären Maßstab produzierten Spielesoftware. Typischerweise nutzen rechtspopulistische Parteien bevorzugt dieses Medium. Schlichte Botschaften bedürfen anscheinend einer entsprechend einfältigen technischen Umgebung.

 

Offensichtlich unterschätzen viele Eltern und Lehrer diese Gefahren und verkehren den legitimen Wunsch nach Medienkompetenz in sein Gegenteil. Denn wer die digitalen Medien nicht als Fortschreibung der bisherigen begreift, gar meint, diese Stufe überspringen zu sollen, landet in einer von Bildungsfeindlichkeit geprägten Welt, welche die Kluft zwischen den Benachteiligten und Geförderten vergrößert und festschreibt.

 

Einer unlängst veröffentlichten Studie zufolge verzichtet knapp die Hälfte der PC- und Smartphonebenutzer auf eine ausreichende Virensoftware. Das beweist erneut eine alte These: Die kapitalistische Gesellschaft lebt von der Bewusstlosigkeit der an ihr unmittelbar Beteiligten.


Foto: Billy-Jenkins-Heftroman(c) Uta-Verlag-Nachfjpg