Drucken
Kategorie: Bücher
kpm Gedenkstatte Osthofen bei WormsFRANKFURT LIEST EIN BUCH vom 16. bis 29. April, Teil 14 - Anna Seghers‘ Roman „Das siebte Kreuz“, Teil 5/5

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Spannung zwischen Fiktion und historischer Glaubwürdigkeit ist ein wichtiges Element des „Siebten Kreuzes“.

Dies betrifft die Biografien von Tätern und Opfern und auch die Sozialstruktur der Orte West- und Osthofen. Und genauso weisen die Schilderungen des teils unterschwelligen, teils offenen NS-Terrors während der Anfangsjahre des Dritten Reichs reale Bezüge zur tatsächlichen Historie auf. Dies gilt auch für die Haltung der Bevölkerung, die sowohl von Anpassung, als auch von stummer Kritik, jedoch selten von offenem Widerstand geprägt war.

Doch es gibt auch Unterschiede. Im realen KZ Osthofen war es nicht zu größeren Ausbrüchen von Inhaftierten gekommen. Dennoch waren einzelne Fluchtversuche zu verzeichnen. So der des jüdischen Rechtsanwalts Max Tschornicki aus Mainz, einem Sozialdemokraten, der am 3. Juli 1933 entkommen konnte. Es gelang ihm, sich ins Saarland abzusetzen, das damals noch unter französischer Verwaltung stand. Nach der Angliederung des Saargebiets ans Deutsche Reich floh er weiter nach Südfrankreich. Seit der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen im Jahr 1940 waren Juden weder im besetzten noch im unbesetzten Teil Frankreichs sicher. Tschornicki wurde entdeckt und im August 1944 von Lyon aus nach Auschwitz deportiert. Dort starb er zwei Wochen vor dem Ende des Kriegs an Entkräftung.
Mancher Kenner des „Siebten Kreuzes“ glaubt in seiner Person das historische Vorbild für Georg Heisler entdecken zu können. Ein solcher Zusammenhang ist jedoch nicht bestätigt.

Erfolgreicher verlief die Flucht von Willy Vogel, dem ehemaligen Kreisleiter der KPD in Worms. Auch sein Weg führte zunächst ins Saargebiet, dann weiter nach Frankreich. Von dort aus setzte er sich nach Spanien ab und nahm als Mitglied der Internationalen Brigaden teil am Spanischen Bürgerkrieg. Nach dem Sieg Francos floh er nach Marokko und schloss sich dort britischen Einheiten an. Bei Kriegsende kehrte er in seine Heimatstadt Worms zurück.

Prominentester Häftling in Osthofen war Carlo Mierendorff, Pressereferent im Hessischen Innenministerium und SPD-Reichstagsabgeordneter. Im März 1933 wurde er verhaftet und aus dem Staatsdienst entlassen. Zunächst gelang ihm die Flucht in die Schweiz. Als er sich acht Wochen später in Frankfurt inkognito mit Widerstandskreisen traf, wurde er von der Gestapo aufgespürt und nach Osthofen verbracht. Mehrfach wurde er dort misshandelt. Im November 1933 wurde er in das KZ Börgermoor im Emsland verlegt. 1938 wurde er entlassen, arbeitete aber weiter im Untergrund für den deutschen Widerstand. Er wurde im Dezember 1943 Opfer eines Luftangriffs auf Leipzig.

Das KZ Börgermoor unweit von Papenburg zählte ebenfalls zu den ersten seiner Art und wurde im Juni 1933 errichtet. Neben Carlo Mierendorff wurde dort auch Wilhelm Leuschner gefangen gehalten. Dort entstand das Lied „Die Moorsoldaten“, deren Text von dem Bergmann Johann Esser und die Melodie von dem Schauspieler Wolfgang Langhoff stammt. Es wurde weltberühmt. Im Spanischen Bürgerkrieg sangen es die „Internationalen Brigaden“. Unter dem Titel „Chant des Marais“ wurde es zum Lied der französischen Résistance. Hier eine Strophe des deutschen Originals:

Hier in dieser öden Heide
ist das Lager aufgebaut,
wo wir fern von jeder Freude
hinter Stacheldraht verstaut.
Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten ins Moor!

Unweit von Börgermoor entstand das KZ Esterwegen. Hier waren Carl von Ossietzky, der Kabarettist Werner Finck, Julius Leber und der spätere Ministerpräsident von Niedersachsen, Georg Diederichs, inhaftiert.

Mit Blick auf die oben genannten vielfältigen Parallelen zwischen Roman und Wirklichkeit muss an dieser Stelle noch auf einen weiteren, vielleicht den wichtigsten Unterschied hingewiesen werden: Beim realen KZ Osthofen handelt es sich um ein so genanntes „wildes“, also von SA-Angehörigen wild errichtetes KZ aus der Frühzeit des NS-Terrorsystems, das als „Schutzhaftlager“ einerseits der Ausschaltung der politischen Gegner und der Einschüchterung der Bevölkerung diente, andererseits aber noch nicht auf die Vernichtung, sondern auf die „Umerziehung“ der Lagerhäftlinge zielte. In Osthofen gab es zwar (zumeist individuellen) Terror und Misshandlungen von Häftlingen, dem aktuellen Forschungsstand zufolge ist hier aber kein Lagerinsasse ermordet worden. Dies ist eine zwar nur graduelle, aber dennoch wichtige Unterscheidung zum fiktiven Lager Westhofen, das eher Lagertypen wie Dachau oder Buchenwald entspricht.

Anna Seghers hat im Rückblick davon gesprochen, dass „Das siebte Kreuz“ zugleich wahr und erfunden sei und sich deshalb alles „was in dem Buch geschieht ... in Wirklichkeit auch begeben haben ... kann“. Um dieser Wirklichkeit trotz der Distanz des Exils so genau wie möglich auf der Spur zu bleiben, musste sie versuchen, auf allen möglichen Wegen verlässliche Informationen über den Alltag in NS-Deutschland zu erhalten. Ihre Quellen waren Zeitungen, Augenzeugenberichte von Grenzgängern ihrer Partei, Exilanten-Publikationen wie das „Braunbuch“ und Erzählungen ihrer Haushälterin Katharina Schulz aus Lindelbach.

Realität und Fiktion greifen in Anna Seghers‘ Roman „Das siebte Kreuz“ ineinander. Wer sich neben der Lektüre des Romans ein ungefähres Bild von der Situation in dem ehemaligen KZ Osthofen machen möchte, dem sei ein Besuch der Gedenkstätte empfohlen.

Foto:
Innenhof der Gedenkstätte Osthofen bei Worms
© Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz

Info: 
Hinweis: Im Rahmen von „Frankfurt liest ein Buch“ veranstaltet der Literatur- und Kulturverein PRO LESEN eine Themenwoche vom 23. bis zum 28. April im Bibliothekszentrum Sachsenhausen. Sie steht unter dem Motto „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“.

Höhepunkt ist die „Donnerstagabend-Lesung“ am 26. April, Beginn 19:00 Uhr, Ende gegen 20:30 Uhr; der Eintritt ist frei. Dort werden kapitelübergreifend Passagen aus dem „Siebten Kreuz“ vorgetragen, in denen einerseits der Lageralltag im KZ und andererseits die Haltung der Bevölkerung beschrieben werden.