Carla Infanta Gabor präsentiert ein Schoah-Buch für Kinder – sie hat eine Sprache gefunden, die überzeugt
Yves Kugelmann
Basle (Weltexpresso) - tachles: Sie sind in Chile geboren und aufgewachsen, Ihre Grosseltern flüchteten vor den Nazis. Nun greifen Sie eine europäische Geschichte auf. Weshalb?
Carla Infanta Gabor: Meine Grosseltern flohen vor den Nazis aus Rumänien nach Chile; sie verloren aber ihre ganzen Familien. Ich wusste also schon als Kind über den Holocaust Bescheid, es war einfach etwas, das ich schon ganz früh kannte. Mich interessierte ebenfalls schon immer das Thema Menschenrechte, auch im Zusammenhang mit der Pinochet-Diktatur in Chile, und ich wollte, dass meine zwei Kinder über all das Bescheid wissen. Ich sprach also zuerst über die Diktatur mit ihnen, später über den Holocaust – und natürlich begannen sie mit zunehmendem Alter Fragen zu stellen. Mit elf Jahren wollte eines von ihnen wissen, ob die Nazis auch Kinder umgebracht hätten, und ich wusste das nicht. Ich konsultierte also verschiedene Bücher, fand dazu aber nichts. Und das führte zur Entscheidung, mein Buch zu machen.
Sie erzählen, im Gegensatz zu fast allen anderen, keine Familien- oder individuelle Geschichte, sondern erklären historische Zusammenhänge für Kinder.
Ja, weil es Geschichten über Kinder ja durchaus gibt. Aber ich wollte und musste erklären, wie das alles geschehen konnte. Mit den Recherchen begann ich indessen dort, wo Familien aus ihren Häusern in die Gaskammern gebracht wurden, und diese Illustrationen machte ich zuerst. Doch dann galt es zu erklären, weshalb dies geschah, und dieser Teil des Buchs basiert mehr auf Texten.
Das Buch ist für Kinder ab zehn Jahren geschrieben. Neu ist, dass Sie Themen wie Gaskammern, Deportationen und Massenmord klar ansprechen, im Gegensatz zu anderen Büchern für Kinder, die das umgehen.
Ja, und noch während des Schreibens habe ich es Freunden meiner Kinder zum Lesen gegeben und sie gefragt, ob es für sie zu viel und die Sprache passend sei. Alle fanden es in Ordnung, einige erkundigten sich nach Wörtern, die sie nicht verstanden. Deshalb fügte ich am Schluss ein Glossar bei. Ich denke, dass Kinder oft unterschätzt werden, mehr verstehen, als wir meinen, und es schätzen, Informationen in geeigneter Weise zu erhalten, die ihnen normalerweise vorenthalten werden.
Sind grafische Darstellungen speziell geeignet, um Kindern auch die schlimmsten Seiten der Geschichte aufzuzeigen?
Nachdem mir bis heute niemand gesagt hat, dass ich ihnen damit zu viel aufbürde, denke ich schon. Im Gegenteil höre ich immer, dass alles auf eine gute Art erklärt wird. Aber manchmal habe ich immer noch leichte Zweifel, ob ich das Richtige getan habe, den gebührenden Respekt für die Toten zeige. Letzteres ist mir sehr wichtig. Aber jüngst habe ich in einer Schule über das Buch gesprochen, und danach kam eine Zwölfjährige zu mir und sagte, es sei gut, dass ich es geschrieben habe. Also kann es nicht ganz falsch sein.
Sie haben die Pinochet-Diktatur altershalber nicht selbst direkt erlebt. Hat diese Sie dennoch darin beeinflusst, die Diktatur in Europa zu verstehen?
Ja, natürlich, aber ich machte in Chile auch persönliche Erfahrungen. Vor 40 Jahren wurden am 29. März direkt vor meiner Schule, wo ich gerade im Unterricht war, ein Lehrer und die Mutter eines seiner Kinder entführt. Sie waren Kommunisten, und zwei Tage später wurden ihre Leichen mit Folterspuren gefunden. Der Fall erregte in Chile viel Aufsehen, und ich werde mich an diesen Tag immer als jenen erinnern, an dem mir und meinen Mitschülern die Kindheit abhandenkam. Für mich ist die Pinochet-Diktatur ähnlich wie jene Hitlers – sogar die Uniformen der Schergen ähnelten jenen der Nazis; Pinochet war wohl ein Anhänger Hitlers. Ich habe vermutlich einen Teil dieses selbst erlebten Schmerzes ebenfalls in das Buch gepackt.
Wollen Sie mit dem Titel «Nicht sehr lang her, nicht sehr weit weg» des Buches klarmachen, dass so eine Diktatur überall und jederzeit geschehen kann?
Normalerweise beginnen Geschichten ja mit «Es war einmal in einem fernen Land …». Aber es ist eben nicht so lange her und nicht so weit weg, ob nun in Chile oder Europa. Deshalb habe ich diesen Titel gewählt.
Heute werden Kinder in den sozialen Medien mit Holocaust-Leugnung und Ähnlichem konfrontiert. Kann man sie mit einem Buch wie Ihrem von den Tatsachen überzeugen?
Ich hoffe es. Wir werden ja heute dermassen mit Informationen geflutet, und wenn ich in Schulen mit den Kindern spreche, zitiere ich immer Primo Levi: Es gibt heute zu viele Propheten, aber wir wissen nicht, welche von ihnen die guten und welche die schlechten sind. Also glauben wir besser gar keinem von ihnen. Ich sage den Kindern, dass dieser Ausspruch Levis gerade heute sehr relevant ist und ermutige sie, die Wahrheit nicht auf den Bildschirmen zu suchen, sondern bei ihrer Familie, ihren Freunden, ihren Gemeinschaften, in Büchern, der Natur und auf der Strasse. Und nicht einfach alles zu glauben, was sie auf ihren Bildschirmen sehen.
Sie schreiben über Konzentrationslager, waren aber nie dort. Weshalb?
Ich war zwar oft in Europa, aber einfach als Touristin. Kürzlich sah ich in Leipzig zum ersten Mal eine Gedenkstätte für die Sinti und Roma, und das war im Zusammenhang mit dem Holocaust für mich eine Premiere. Und jetzt habe ich auch die Villa der Wannseekonferenz und das Holocaust-Memorial für die sechs Millionen getöteten Juden gesehen.
Das Buch ist in Deutschland dank dem Soziologen Harald Welzer herausgekommen. Wie war es in Südamerika?
Ich habe es in Chile im Eigenverlag auf Spanisch schon veröffentlicht, aber nur in einer sehr kleinen Auflage von 250 Exemplaren. Diese haben wir im Crowdfunding verkauft, um das Geld für den Druck zusammenzubekommen. Das hat leider nicht geklappt, aber dann hat mein Vater mir das Geld für weitere 250 Exemplare vorgeschossen. Auch, weil ich die erste Auflage vielen Leuten geschenkt habe, um das Buch bekannt zu machen.
Wie geht’s weiter mit nächsten Projekten?
Schon lange entwickle ich eine andere Idee. Sie basiert darauf, dass viele Holocaust-Überlebende nicht über ihre Erlebnisse sprechen können, bevor sie 60, 70 Jahre alt sind. Die Geschichte, die mir vorschwebt, handelt von einer Überlebenden, die sich schon früher dafür entscheidet, weil ihr Enkel weiss, dass sie in Auschwitz war und sie dazu drängt, mit ihm dorthin zu gehen. Dieses Buch würde aber nur aus Illustrationen bestehen, ohne Texte. Ich weiss noch nicht, ob ich es tatsächlich machen werde, aber es ist doch ein Projekt, an das ich denke.
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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 11. April 2025