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Kategorie: Bücher

Verleihung des ersten Horst Bingel-Preises für Literatur an die Lyrikerin Nadja Küchenmeister am 17.12.2014. Zum aktuellen Gedichtband „Unter dem Wacholder“

 

Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Interpretation eines Werks der Lyrik muss sich dem Dichterischen in gewisser Weise anähneln, denn eine in jedem Fall trivial bleibende Sprache der 'Rezension' müsste sonst vor dem Lyrischen gänzlich scheitern.

 

Nach dem ersten, tastenden 'Durchgang' durch die jambischen Dreireiher von „Unter dem Wacholder“ bleibt eine Desorientierung. Das ist normal, denn der Selbstbezüge auf Leben und Entwicklungen sind im Lyrischen gänzlich eigene.
Ein weiterer Durchgang ergibt nähere Einsichten in zeitliche Perioden und Kausalbeziehungen.

 

Während einer lyrikferneren Sicht Welt geordnet und fest gegründet erscheint – angedeutet im Werk durch etwas wie 'die trockenmasse, das Rezept der Jahre'
(S. 49) -, ist der Ausgangspunkt für Dichtung eine Welt des „Dunkels des gelebten Augenblicks“ am Beginn eines jeden Schaffens; bei Ernst Bloch Ausgangslage zu Beginn jeden Philosophierens – unhinterschreitbar eigentlich, bloß dass im Vorgang des Dichtens mit den allerausgesuchtesten Stellungen von Wörtern und Begriffen doch so etwas wie Aufhellung bis zu einem gewissen erweiterten Grad als möglich erscheint.

 

Zur alten Einsicht gehört, dass in der lyrischen Periode jene die Bedeutungen erzeugenden Sphären der Einzelwörter sehr vom Normalsystem abweichen. Sie sind nicht nur als je einzelne ganz andere, sondern auch in der Wechselwirkung, in der Überschneidung der Bedeutungskreise. So entsteht eine unversiegliche Quelle für Interpretation. Die Sprache der Dichterin muss also gegen die herkömmliche, abgegriffene Zurüstung der Wörter gleichsam eine Rebellion begehen, um ihre Arbeit auf die Ebene zu heben, auf der immer noch weitere interpolierende Bedeutungen hervorspringen können.

 

Apropos Sprache: Würden Politiker regelmäßig Lyrik in sich aufnehmen, müsste sich auch ihre polit-strategische, gemeinhin sehr schlicht erzeugte politische Alltagssprache um ein Weniges verändern, käme den Wirklichkeiten der von ihren Entscheidungen Betroffenen (schon aufgrund glaubwürdiger Andersartigkeit des Ausdrucks) ein wenig näher.

 

 

Interpretation hat kein Konzept, sie kann nur mäandrieren

 

Alles, was Bewusstsein und Selbstverständnis eines Menschen formt, entstammt dem Kreis der bis ans Lebensende bleibenden Eindrücke aus den ersten frühen Jahren. Gut, wenn es nicht so schlechte sind, denn sonst entsteht ein Problem. Die frühen prägenden Erfahrungen machen die Kindheit oft so selig wie kein anderes Lebensalter. Spätere erleuchtende Eindrücke sind immer schon Fortschreibungen jener ursprünglichen, früh gewonnenen Formen – der Ideen gleichsam. Dieses an ersten frischen Bildern Kleben macht Kinder in ursprünglicher Weise zu Philosophen – folgt man einer Einsicht Schopenhauers. Also wäre das Anknüpfen an die vor-diskursive Phase der Kindheit eine der Grundlegungen auch für den dichterischen Umgang mit dem System Welt, das dann etwas von einem Unterweltapparat, einem Höllenmäßigen annehmen muss, denn es irritiert das Kind im Erwachsenen um so mehr dann noch. Die Bezeichnung 'höllenhaft' gehörte in unseren Kreisen zu der vorjugendlichen Art von Zuweisen von Bezeichnungen. Man hatte schon manch fragwürdig Durchgängiges begriffen am Weltzustand, in dem man angekommen worden war.

 

Ist auch der Augenblick dunkel, so gehören die prägenden Bilder doch dem Hellen, Klaren, Verstandesmäßigen an, dem Apollinischen also - im Unterschied zum Dionysischen (der dunkleren Seite) -, sofern wir hier Nietzsches Dichtomie bemühen wollen. Dazwischen liegen die verschiedenartigen Träume, sie sind ambivalent.

 

Das Wechselspiel zwischen 'diesem blauen morgen', 'mittagsstunde' (S.20/21), 'die sonne ist hier, schwankt auf dem tisch' (S.35) und dem Abend, den 'gedanken der nacht' (S.20) und wieder zu 'ersten sonnenstrahlen', 'diesem morgen frischen tag' (S.34), bildet das Expositiv für diejahreszeitlich gefassten Zeilen von 'der tod im traum', die den Anfang machen, mit Anklang an 'bahnhof' – ein Ort, der wiederkehrt -, und für die Verse in 'verzeih' und 'reise zum mond'.

 

Mit dem Gegensatzpaar Hell/dunkel und Verkehrsanlage Bahnhof – sie kehrt wieder, der Band schließt auch mit ihr -: die Überwindungsversuche für eine Beziehung mit 'verzeih', die noch kaum als erledigt gelten darf. Nach 'unter dem wacholder' (der alten Stätte für Reinigung) in 'reise zum mond', dann Übergang zu 'offene see', nachdem die abschließenden Zeilen 'wir sehen auf dem mond das sonnenlicht. wir werden blind, wir wissen nicht, ob wir gestorben oder nur unermesslich traurig sind' uns gerade noch mächtig ansprangen (S.36).- 'offene see' setzt das Motiv Bahnhof weiter fort mit 'ein morgen, kühl und klar, der hinterm bahnhof wuhletal wie ein versprechen anbrach...'. (S.44).

 

Die Situation wechselt zu städtisch in 'offene see' mit: 'es war im wedding' (S. 41) wie auch bereits mit: 'hinterm bahnhof wuhletal' (S.44). Es geht um 'früher' – 'war das licht ganz anders' (S.44); es wird lyrisch gehandelt, gesprochen, jede Zeichenfolge ist so anders expressiv begleitet als im Normalsprachzuständlichen. Ein Versprechen liegt im Rückgriff auf 'morgenlicht', dem Kind im Selbstgespräch geht 'von diesen harten linien...ein seltsam fremder zauber aus, erst recht am morgen gegen sieben' (S.41/42) Der 'junge morgen' hat einen Anklang an das „Licht der Offenbarung“, das sowohl christliche als auch naturmythische (wie weitere) Überzeugungen teilen. Der Morgen ist ohnehin verheißend für das jugendliche Erwarten und die vagen Versprechungen eines Lebens.

 

Mögliche Auslegungen sind keine per definitionem. Das Widerklingen der lyrischen Zeilen ist Sache des gesamten Cortex. Unmittelbar begrifflich einsichtig die Zeilen von 'ohne mich' (S.47) am Beginn von 'geister'. Sie handeln vom Intermediären, dem Erkenntnisproblem schlechthin. Das Bild, der Mund (der spricht, erklärt), die Pupille – und wie der Übergang? Wie ist das Problem des Bruchs zwischen Medien zu schlichten? Es bleibt ungelöst. Niemand hat es je ergründet.

 

An den ursprünglichen Prägungsplätzen der Kindheit entstehen Fragen wie: 'in welches land bin ich geweht?' (es reicht vom 'rausch der lichtumspülten plätze' bis zu 'immer tieferer schwärze...' S.48), - 'wer hat mich hergebracht' und vielleicht schon dem Kind: 'wie kehr ich heim?' - Es sind 'geister' anwesend: 'der tote ist bei licht besehen an seinen platz zurück gekehrt' (es knistert im Gebälk) (S.49). Der junge Morgen, das Morgenlicht, 'ein morgen, kühl und klar' (S.44), versprach neue Offenheit auf offener See.

 

Gleich einem Geist wirkt 'er' (der Vater?) in 'abendlied':'beim duschen macht er pause von den zigaretten', 'das portemonnaie birgt abgelaufene papiere', 'abgehalfterte soldaten, von schüttelfrost geplagt...', 'ein jahrzehntelanges fieber, eine dauergrippe, in den verästelungen seiner bronchien wütet' und 'er fegt die asche von der tagesdecke, in einer stunde ist die nacht vorbei'. (S.52-55)

 

Heimatliche Gegend und zeitlich eingeschränkte Rückkehr? in: 'briefe nach hause'? Sie verweisen zurück auf frühe Erinnerungen, lassen alte Eindrücke frisch werden, mit Vertrautheiten und Ungewissheiten – ein aktueller Tod spielt mit hinein? - Nicht weit von der 'greifswalder oie' ('der polnische sand'): 'kurzer gang zum strand', 'komm am abend nochmal vorbei...kinder werden schlafen...grube offengelassen, wirf ruhig...'. - Um 'mitternacht': 'ausgewandert ist dein herz in deine hand', der 'stapel briefe, lange nicht gelesen', dann: 'bis in die morgenstunden wach: wer bist du nur gewesen' und 'unter den sternen': 'andere echos bewohnen den garten', 'die straßen laterne bleibt sich treu', 'sie sammelte die kinder ein', 'sie wachte über meinen schlaf...'. (S.59-64)

 

'das amerikanische licht' (I-IV). Eine weitere Lichterscheinung, aufgeblendet durch eine neue Zeit, die Zeit der Wende: 'das amerikanische licht hing morgens immer vor dem balkon', 'mein licht', 'wir waren jetzt immer zusammen, mein amerikanisches gefühl und ich.' (S.70) Es ist wahr und banal zugleich, 'dass man sein inneres nicht teilen kann', es ist ureigenstes, es trennt von allem andern, ist aber Bezug schlechthin. Die Illusion, die vom Augenblick ausgeht, schwingt mit: wenn 'da redeten die küchen stimmen das ende einer utopie herbei', aber es heißt dann: 'da kam mein licht! Es kam herangerollt vom bahnhof wuhletal und hob mich in sein gleißen...' (S.72)

 

Gegen Schluss: 'müde wie ich' und 'kairos'. Sie bereiten dem Lesenden so etwas wie die Beeren- und Trancepassagen; das bedeutet: koketter Umgang mit Glück und Tod, begleitet von Agonie und Müdigkeit: 'als würde jemand in der ferne särge putzen', 'dein tier liegt ausgestreckt mit aufgesperrtem rachen', 'dein tier ist müde, will nicht mehr...und einmal blüht die königin der nacht'. (S.77) Es wird angeregt: 'du musst schon ganz in diese höhle gehen:'...'nachts sprichst du in fremden zungen'. (S.80)

 

'kairos' (rechter Ort?): 'ich werde bei dir sein, du wirst bei mir sein', ruft dem Leser die Erinnerung an das mystifizierende Motiv von 'Road to Cairo', einem der zentralsten Songs der 60er-Jahre, gesungen von der Königin des Psychedelic Sound, Julie Driscoll, zurück, unvergleichlich in der düster-verhangenen Phase jener Ära, die kurz war: Mutter harrt der Mitnahme, ihr Ziel ist Kairo, irrealer Ort:
'I got to go back to my children..'.- Die einleitenden Zeilen zu 'kairos' lauten: 'irgendwann werde ich aufgehört haben, darauf zu warten, dass du bei mir bist.' (S.83)

 

Kleinerer Sprung nun ans Ende: es kommt mit 'kreuzgang', die fundamental-menschliche Situation auseinandersetzend, Ort: Bahnhof Wuhletal: 'schwere ...dunkle träume, du hast sie nicht zu lesen verstanden.' - etwas wie Lebensuhr läuft - 'abgestellt, inmitten eingefahrener gedanken'...'ein bahnsteig voller rückfahrkarten'...'stillgelegten adern'......'längst verwitterte strecken' (S.97-99) Ähneln von Bahnkreuzen und 'kreuzgang'. Zugänge, Bahnhöfe, Anschlüsse, entgleisende Züge - 'keine verbindung, keine verheißung' (S.98), 'zerfall der wünsche', 'kreuzgang undurchschaubarer verlauf' (S.100); Schluß: 'der schatten wächst sich aus zum abend und nimmt sich, wo er kann, vom licht' (S.101).

 

Wie oberflächlichenhaft ist Leben doch immer wieder im Normalen, Nicht-Literarischen, Nicht-Dichterischen; eigentlich ist es doch eine leere, dürftige und vertanene Zeit. Menschen verfallen in unseren Tagen vollends zum Objekt betriebswirtschaftlicher, marktförmiger Kalkulationen, wer hätte das gedacht, auf der Höhe des Fortschritts!, dabei ist doch der Markt nichts als die einzelnen selbst, wenn auch ohne Bewußtsein, als große Zahl, wie Marx wusste.

 

Horst Bingel schrieb über die Dichter: „Papier gewordenes Gedächtnis der Menschheit./ Wut und Trauer halten die Literatur zusammen.“ (Poetologisches Statement) http://www.horstbingel.de/index.php/stif http://www.horstbingel.de/

 

Selbst ein Gedicht schafft sich nicht ohne ein gerüttelt Maß an Aggressionen gegen Zustände, als Kraft und Mittel sich zu organisieren. Trauer (und verhangne Wut) ist Passanten ins Gesicht geschrieben. Dichtung findet Worte der sanften Aggression.

 

 

Aus der Ankündigung zum Abend der Verleihung: „Die Berliner Autorin Nadja Küchenmeister ist die erste Preisträgerin des Horst Bingel-Preises für Literatur, den die Horst Bingel-Stiftung für Literatur und der Landesbezirk Hessen der Gewerkschaft ver.di alle zwei Jahre vergeben wird. Preiswürdig sind Autorinnen und Autoren, deren Werk literarische Qualität mit gesellschaftlichem Engagement verbindet. Der Preis ist mit 8000 Euro dotiert.“

 

Auch heißt es über die Gedichte von Nadja Küchenmeister (geboren 1981): „Es ist die Erfahrung der Vertreibung aus dem Land der Kindheit, die hier zur Sprache kommt. So sehr, wie es sich bei diesem 'Land' um eine innere Welt zu handeln scheint, so lassen sich einige der Gedichte aber auch auf die Außenwelt beziehen, auf den Staat, in dem die Autorin aufgewachsen ist und den es heute nicht mehr gibt...“.

 

Programm der Festveranstaltung:

 

https://www.schoeffling.de/autoren/nadja-küchenmeister/d