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Kategorie: Film & Fernsehen
Bildschirmfoto 2019 09 18 um 23.33.28Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. September 2019, Teil 3

Menno Baumann

Berlin (Weltexpresso) - WENN SELBST DAS ECHO NICHT MEHR ANTWORTET... Ich hatte in den letzten fast sechs Jahren die große Ehre und das Vergnügen, die Entwicklung und Entstehung dieses Filmes von der Frage „Wäre das ein Thema für einen Film“ über die verschiedenen Drehbuchfassungen bis zu den Dreharbeiten immer wieder begleiten zu dürfen. Von mir, so hieß es, könnten auf Grund meiner praktischen Erfahrung in der Jugendhilfe, aber auch auf Grund meiner Forschungsarbeiten, die an diesem Projekt Beteiligten vieles lernen...

Die Frage, wie dieses komplexe Thema im Rahmen eines Kunstwerkes – und das ist dieser Film ohne jeden Zweifel – darstellbar sei, hat mich jedoch im Erleben mehr zu einem Lernenden gemacht als zu einem Berater. Voller Spannung durfte ich erleben, wie einerseits die Ernsthaftigkeit und das gesellschaftliche Drama, das sich hinter diesem Titel verbirgt, deutlich und realitätsnah bestehen blieben. Und andererseits entstand ein Film, dessen Handlung auch für Menschen, die mit diesem Thema noch nie in Berührung
gekommen waren, nachvollziehbar und ansprechend wirkt. Resümierend bleibt dabei aber doch die „fachliche“ Frage: Wie realistisch ist dieser Film?

Beim ersten Mal, als ich SYSTEMSPRENGER sah, fiel mir gleich eine Frage ein: Müsste zu Zeiten gender-gerechter Sprache der Film nicht konsequenterweise Systemsprengerin“ heißen? Die Antwort wurde mir schnell klar: Auf keinen Fall! Denn es geht hier nicht einfach nur um Benni, sondern der Terminus muss im Plural gedacht werden – angewendet auf alle Akteure des Filmes gleichermaßen. Denn – so lehre ich das im Rahmen von pädagogischen Diagnostikseminaren seit Jahren – Benni ist kein Fall, sondern ein Kind. Der Fall ist die Gesamtheit an Dingen, die sich mit, um und für Benni ereignen – inklusive überforderter Helfer, zu hoher Fallzahlen in den Jugendämtern, Kommunikationsrituale und -Spielregeln zwischen Schule, Psychiatrie und Jugendhilfe, Personalnot in den Einrichtungen etc. Insofern zeigt sich hier das Fingerspitzengefühl der Regisseurin: Benni ist nicht einfach „die Systemsprengerin“, sondern es wird ein komplexer Vorgang beschrieben, wie es ihn zum Glück nicht so häufig, aber doch immer
wieder gibt.

Verschiedene Untersuchungen im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe wie auch der Sozial-Psychiatrie haben gezeigt, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, denen im
Rahmen der bestehenden Hilfesysteme offenbar kaum geholfen werden kann. Sie wandern von Maßnahme zu Maßnahme, kommen immer wieder von Psychiatrie zu
Inobhutnahmestelle, in eine neue Pflegefamilie oder in ein neues Heim. Die Ambivalenzen der überforderten, ängstlichen, im Grunde aber doch liebevollen Mutter sind in diesen „Fallverläufen“ ebenfalls ein typisches Muster. Diese Dynamiken, die in der Fachwelt oft mit dem hilflosen Begriff des „Systemsprengers“ (dabei handelt es sich nicht um einen Fachbegriff, siehe mein YouTube-Beitrag: „Systemsprenger – Versuch einer Definition“) benannt werden, hat der Film auf absolut reale Weise eingefangen. Es gibt sie, die „Bennis“, die hilflos durch das Helfersystem zu irren scheinen und dabei, zwischen ihrer Angst und ihren eigenen Machtphantasien gefangen, hilflose Helfer zurücklassen. Verschiedene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass ihr Anteil innerhalb der stationären Jugendhilfe (Heimerziehung) in etwa bei fünf Prozent liegt, vielleicht sind es auch
sieben. Also eigentlich eine kleine Gruppe - da diese aber hoch dynamisch unterwegs ist, beschäftigt sie das System extrem.

Die nächste Frage: Sind das tatsächlich Kinder wie Benni? Eine Untersuchung, die ich vor einigen Jahren an der Universität Oldenburg geleitet habe, zeigte: Ja, es gibt auch Kinder, die im Alter von unter zehn Jahren schon überall rausfliegen und auf dieser „Reise“ sind. Prototypisch ist das aber nicht (etwas vier Prozent aller „Systemsprenger“ sind jünger als zehn Jahre). Der größte Teil, der von diesem Phänomen betroffenen Kinder und Jugendlichen, ist älter als dreizehn Jahre, die Phänomene der gewaltsamen Impulsdurchbrüche und des Weglaufens sind dabei aber prototypisch (zusammen mit Drogenkonsum, Selbstverletzungen und Zündeleien).

Besonders sorgsam ging die Regisseurin bei der Auswahl der einzelnen Szenen vor. In ihrer akribischen Recherchearbeit sammelte sie so viel Material aus eigenen Erlebnissen und Erzählungen von Pädagogen und Pädagoginnen, dass fast jede einzelne Szene sich irgendwo in Deutschland genau so abgespielt hat. Die Reflexion dieser Ereignisse, so dass ein in sich stringenter Charakter „Benni“ entsteht, hat dabei riesige Freude bereitet.

Natürlich steht die Frage nach der Realität auch bezüglich der Erziehungsmaßnahme „drei Wochen Wald“. In ungewöhnlichen Fallverläufen greift die Pädagogik in der Tat auch zu ungewöhnlichen Mitteln – und somit ist dies sicherlich wiederum eine absolute Ausnahme, aber keineswegs undenkbar, dass auch eine solche „Maßnahme“ in Erwägung gezogen wird. Erlebnispädagogische Projekte gibt es mittlerweile viele, und fast alle entstanden aus dem spontanen Entschluss, einfach mal was auszuprobieren.

Auch die Spaltung des Helfersystems in einerseits überfordert-genervte Menschen, die immer darauf pochen, „das sei so nicht ihre Aufgabe“ und den engagierten „Rettern“, die letztlich damit überfordert sind, die Grenzen zwischen ihren Emotionen und ihrer Fachlichkeit, die nicht ohne Emotionen auskommt, aber auch nicht von diesen überrannt werden darf, zu wahren, ist etwas, das ich als Berater intensivpädagogischer Einrichtungen seit Jahren bestens kenne. Dass dabei auch Grenzüberschreitungen bis ins Private hinein geschehen, ist absolut keine Seltenheit.

Als wunderschön empfinde ich die Symbolsprache des Filmes. So wird eine verschwommene Drehtür am Beginn der Flughafen-Szene gezeigt – in der Tat wird der Prozess, dem Benni zwischen Heimen, Pflegefamilien, Inobhutnahmen und Psychiatrien ausgesetzt wird, als „Drehtüreffekt“ bezeichnet. Und die Auslandsmaßnahme ist eben die nächste Stufe der Eskalation – auch wenn diese Maßnahmen oft sehr hilfreich sind, wenn sie gut arrangiert werden.

Auch die drei möglichen Film-Enden, nach dem Benni weggelaufen ist, stellen die Ambivalenz ihres Lebens, ihrer Sehnsüchte und ihrer Ängste beeindruckend und künstlerisch dar: Das Verstecken in der Hundehütte des eigentlich angstbesetzten Wachhundes, die Geborgenheit in den Armen Michas und die nüchterne Lagerung auf der  Krankenwagenpritsche zeigen, dass solche Situationen in der Realität eben kein eindeutiges, „wahres“ Ende haben können. Dies muss der Zuschauer – Profi oder nicht – aushalten lernen.

Meine persönliche Lieblingsszene ist die Szene im Wald, wo Micha Benni zeigen möchte, was ein Echo ist. Voller Verzweiflung brüllt sie ihr „Mama“ ins Tal, aber nicht einmal das Echo antwortet ihr. Besser lässt sich die Gefühlswelt dieser Kinder, die ich in den letzten Jahren kennen lernen durfte, nicht darstellen.

Natürlich enthält der Film auch Vereinfachungen und Reduktionen, an denen sich nachweisen ließe, das gewisse Darstellungen unrealistisch seien. SYTEMSPRENGER ist kein
Dokumentarfilm, sondern eine fiktionale Filmerzählung. 

So wird die Vielzahl der Menschen, die im realen Leben hier beteiligt wären, reduziert: pro Heim maximal zwei Erzieher, immer dieselbe Ärztin... Auch werden alle Akteure in diesem Film als durchweg engagiert und an ernsthafter Kooperation interessiert dargestellt – eine Stärke des Films, ohne Schuldzuweisungen und simple Erklärungen auszukommen! Aber leider gelingt dies in der Realität nicht immer so einfach. Wenn jedes Kind ein Kooperationssystem um sich hätte wie Benni, würde manches mehr gelingen. Unter dem Strich sehe ich aber einen beeindruckenden Film, der ein sehr ernstes Thema unserer Kinder- und Jugendhilfe aufgegriffen und in seiner Komplexität in Szene gesetzt hat. Nach den Spielregeln der Filmwelt, aber auch unter Brechung ebendieser. Denn immer, wenn der Zuschauer glaubt, Hoffnung keimt auf, belehrt uns der Film eines Besseren. Und dieses Kerngefühl, das Helfer und Helferinnen in ihrer Arbeit immer wieder erleben, ist in dem Film eingefangen.

SYSTEMSPRENGER verlangt vom Publikum das, was Benni von jedem einzelnen mit ihr konfrontierten Erwachsenen verlangt: Auszuhalten, dass es auch diese Seite des Menschseins gibt!

Foto:
© Verleih

Info:
Der Autor Professor Dr. Menno Baumann ist Professor für Intensivpädagogik, Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf, Leinerstift Kinder-, Jugend- und Familienhilfe e.V. Großefehn/Ostfriesland
Abdruck aus dem Presseheft