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Kategorie: Film & Fernsehen
berl1870. Berlinale vom 20. 2. - 1. 3.2020, WETTBEWERB, Teil 18/18

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Daß es kein Böses gäbe, widerruft der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof mit jeder Szeneneinstellung. Nur kann man ihn danach nicht fragen, denn er hat in Persien nicht nur Berufsverbot, darf also eigentlich gar keine Filme drehen, sondern darüberhinaus auch Reiseverbot. Er und seine Freunde sind froh, daß er nicht mehr im Gefängnis sitzt.

Vergleicht man diese Ausgangssituation mit den normalen Arbeitsbedingungen unserer westlichen Welt, kommt man ins Räsonieren, auch erst recht zu bewundern, wie unter solchen Verhältnissen komplexe Filme entstehen, denn um einen solchen, einen regelrecht durchkomponierten Film handelt es sich. Allerdings um keinen, den man mit Links oder Rechts schnell abhakt, diesen Film von 150 Minuten muß man sich erarbeiten, aber dann hat man was davon!

In vier Episoden geht es grundsätzlich um die Todesstrafe und um die Menschen, die anderen den Tod bringen, Henker, Exekutierer, was so sachneutral klingt, was aber vorsätzliches Töten, also Mord bedeutet.

Die erste Episode steht völlig für sich. Das weiß man aber erst am Schluß. Wir fahren mit einem 08/15 Iraner namens Hashmat mit stoischem Gesichtsausdruck aus einer Tiefgarage. Irgendwas stimmt nicht, denkt man, und prompt wird er angehalten, muß den Kofferraum aufmachen, wo wir einen Sack sehen – natürlich sofort durch die Szenerie der Morde in unseren Tatorten an eine Leiche denken – er aber den Aufpasser damit beruhigt, er habe einen Sack Reis gekauft. Aha.

Und dann lernen wir diesen zurückhaltenden, aber verantwortungsbewußten Sohn einer leicht debilen Mutter kennen, den Vater einer quirligen und selbstbewußten, ja geradezu auftrumpfenden kleinen Tochter und den Ehemann einer Lehrerin, die von ihm viel erwartet. Beide hat er mit dem Wagen abgeholt. Bei seiner Mutter kocht er für die ganze Familie, saugt ihr die Wohnung, putzt, was nötig ist und ist so richtig ein Vorzeigemann in seinen Taten für die anderen. Die Familie fährt zurück in die eigene Wohnung, der Wecker steht auf 3 Uhr, er fährt mit dem Wagen in genau die gleiche Tiefgarage zur Arbeit. Noch wissen wir nicht, was er tut, denn wir sehen nur eine kleine Küche, wo er sich Kaffee richtet und Gemüse wäscht. Dann blinken erst rote Lichter, dann grün, er geht an einen Schalter, zieht diesen runter und in der nächsten Szene sehen wir vom Hals abwärts gehenkte Männer, denen teils die Schuhe abgefallen sind, die Hosen genäßt, es tropft.

Der liebevolle Sohn, der gute Vater und verläßliche Ehemann ist Henker. Keiner der noch selbst Hand anlegt, sondern dafür einen Schalter bewegt. Der Schock des Zuschauers sitzt tief, zumal kein Wort fällt. Jedes wäre auch zu viel gewesen. Ich mußte unmittelbar an das Lied von Wolf Biermann denken – lange ist es her, nämlich 1965 hat er es auf einer Tour mit Wolfgang Neuss im Frankfurter Zoo Gesellschaftshaus gesungen, das Ballade vom dem biederen Familienvater heißt, welcher eines Tages seine Frau aufgegessen hat!

Jeden Samstag geht der nette fette Vater
Einen Eimer Kohlen holen
Aus dem Keller für das Bad
Dass er sau-
Dass er sau-
Dass er saub're Kinder hat

lautet der jeweilige Refrain,
der in der letzten Strophe blutiges Wasser hat.

Fortsetzung folgt

Foto:
der gute fette Vater
© berlinale.de

Info:
Stab
Regie, Buch Mohammad Rasoulof
Kamera Ashkan Ashkani

Besetzung
Ehsan Mirhosseini (Heshmat)
Shaghayegh Shourian (Razieh)
Kaveh Ahangar (Pouya)
Alireza Zareparast (Hasan)
Salar Khamseh (Salar)
Darya Moghbeli (Tahmineh)
Mahtab Servati (Nana)
Mohammad Valizadegan (Javad)
Mohammad Seddighimehr (Bahram)
Jila Shahi (Zaman)
Baran Rasoulof (Darya)


Der abwesende Mohammad Rasoulof, der im Iran keine Ausreise nach Deutschland bekam
Bildschirmfoto 2020 02 28 um 23.49.21Geboren 1972 in Schiras, Iran. Während seines Soziologiestudiums begann er, Dokumentar- und Kurzfilme zu drehen. Nach seinem zweiten Film, Iron Island, wurden seine Möglichkeiten, Filme zu machen und zu zeigen, immer weiter eingeschränkt. Alle sieben Langfilme fielen im Iran der Zensur zum Opfer. 2010 wurde er bei der Zusammenarbeit mit Jafar Panahi am Set verhaftet und zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche internationale Auszeichnungen, u. a. mehrere Preise in der Reihe Un Certain Regard in Cannes. Seit 2017 darf er den Iran offiziell nicht mehr verlassen.

Filmografie
2002 Gagooman (The Twilight); Dokumentarfilm 2005 Jazireh ahani (Iron Island) 2008 Bade dabur (Head Wind (The Dish)); Dokumentarfilm 2009 Keshtzarhay e sepid (The White Meadows) 2013 Dastneveshtehaa nemisoozand (Manuscripts Don't Burn) 2017 Lerd (Man of Integrity) 2020 Sheytan vojud nadarad (There Is No Evil)

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