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Kategorie: Film & Fernsehen
inside2Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 16. März 2023, Teil 2

Redaktion

Hollywood (Weltexpresso) - Als die Arbeit am Drehbuch Formen anzunehmen begann, wurde es Katsoupis immer bewusster, dass die wichtigste Zutat bei einem Film mit nur einer Figur der richtige Hauptdarsteller ist. „Im Kern ist dieser Film ein Aufruf für den Hauptdarsteller zu einer Forschungsreise, ein Trip mit sich selbst über das Drehbuch hinaus und hinweg“, merkt der Regisseur an. „Die Hauptrolle ist ein Kunstwerk, das in erster Linie von dem Schauspieler in Zusammenarbeit mit mir geformt werden würde. Eine Live-Installation, ausgestellt wie alle
anderen Elemente in diesem Penthouse, die ein Zusammenspiel mit Zeit und Wahrnehmung hervorruft, auf der feinen Linie zwischen Realität, dem Dreh und der Allegorie, die der Film
anstrebt.

Deshalb war es von entscheidender Bedeutung, die Handlung unmittelbar mit der Persönlichkeit des Hauptdarstellers zu verbinden, ihre ganz spezifischen Chimären, Ängste und Wahrnehmung der Welt. Der Hauptdarsteller – sein Ausdruck, seine Körperbewegungen, seine Sprache – ist das einzige Medium zwischen der Bedeutung des Films und dem Publikum. Das Haus ist der zweite Hauptdarsteller, seine Kulisse der Boden für den emotionalen Kampf, eine unterstützende Quelle.“

Es ist keine einfache Rolle. Sie setzt ein gewisses Maß an Einsatz voraus, körperlich wie mental. „Weil es keine verbalen Dialoge gibt, lädt der Film den Zuschauer ein, daran teilzuhaben, die Figur im Verlauf der Handlung zu erfinden und zu definieren“, meint Vasilis Katsoupis. „Wer ist dieser Mann? Wie sieht seine Vergangenheit aus? Der Hauptdarsteller musste all das nötige Rüstzeug mitbringen, um einen Dialog zwischen ihm und dem Zuschauer in Gang zu bringen. Er ist ein Rätsel, das bis zum Ende des Films darauf wartet, gelöst zu werden.“

„Als wir uns den Kopf darüber zerbrachen, wer der beste Schauspieler für Nemo sein würde, fiel uns Willems Gesicht ein“, fährt Produzent Karnavas fort. „Darauf kamen wir immer wieder
zurück. Wenn man so will, ist sein Gesicht wie eine lebendige Skulptur. Ich hatte das Glück, Willem 2017 auf dem Tribeca Film Festival kennengelernt zu haben, als er als Präsident der
Jury fungierte. Einer meiner Filme hatte den Weg in den internationalen Wettbewerb gefunden, und wir gewannen den Hauptpreis, also bestand bereits eine gewisse Verbindung. Dann
kreuzten sich unsere Wege wieder im Jahr darauf bei der Mostra in Venedig, als Willem Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit vorstellte. Über den ausführenden Produzenten Jim Stark ließen wir ihm die erste Drehbuchfassung zukommen. Sie ahnen gar nicht, wie überrascht ich war, als ich herausfand, dass er die Zeit gefunden hatte, sie zu lesen, und sich binnen weniger Wochen meldete mit der Ansage, er wolle sich mit uns treffen.“

Willem Dafoe erinnert sich an den ersten Eindruck, den der Stoff bei ihm hinterlassen hatte: „Als ich das Drehbuch las, war ich vor allem davon fasziniert, dass es sich im Grunde um eine
Person dreht, die mit einer Situation konfrontiert ist, ohne viel Text. Diese Konstellation fand ich ungemein interessant. Mir gefiel es, mit Vasilis zu arbeiten, weil es seine Idee war. Alles ist
in seinem Kopf, in seiner Vorstellung. Aber ich bin es, den er als seinen Körper losschickt, seine Person, um seine Fantasie auszuleben.“ „Wenn man genauer darüber nachdenkt, dann ist Willems Rolle ungemein bedeutend für den Film“, findet Produzent Giorgos Karnavas. „Er ist ein Vollblutkünstler, jemand, der von künstlerischen Risiken lebt und der einen Vertrauensvorschuss gewährt. Seine Unterstützung von Anfang an hat uns geholfen, uns festzulegen, sie gab uns Mut und Zuversicht, dass wir etwas machten, das von Bedeutung war, das interessant sein würde. Er machte diesen Film erst möglich.“

„Ich hätte mir nicht mehr wünschen können“, sagt Vasilis Katsoupis, als er miterlebte, wie Willem Dafoe sich die Rolle zu eigen machte. „Willem verfügt über einen ungewöhnlichen
Werkzeugkasten, was Schauspielkönnen und Talent betrifft. Das macht ihn zur idealen Besetzung für einen Film, in dem nur eine Figur zu sehen ist. Er bringt die körperlichen und
mentalen Anforderungen mit, die eine Brücke schlagen von der Härte der Figur zu ihrem inneren Schmelzen; und er hat die Erfahrung und Reife, die nötig sind, um die Persönlichkeit
unseres Helden zu formen und Nemo wie ein sich fortwährend wandelndes Kunstwerk zu behandeln.“

Dafoe sagt, dass ihn der neue Ansatz des Films für eine bekannte Prämisse ansprach. „Filme sind für mich dann am kraftvollsten, wenn sie nicht einfach nur eine exotische Idee sind,
sondern wenn sie dazu inspirieren, auf die Dinge mit einem anderen Ansatz zu blicken. INSIDE beschäftigt sich mit sehr elementaren Dingen, betrachtet, wie wir überleben, was wir brauchen, wie wir denken, was uns Freude bereitet, und wie wir auf unser Leben blicken.“

Als es daran ging, sich an die weitgehend wortlose Rolle anzunähern, stellte Dafoe fest, dass es wie von selbst ging, ganz natürlich und unbemüht – was vielleicht auch damit zu tun haben mag, dass er sich selbst immer schon mehr als Tänzer denn als Schauspieler gesehen hat. „Man redet dabei die ganze Zeit – aber man redet immer nur mit sich selbst“, lacht er. „Man redet auch mit Gegenständen. Und wenn ich „reden“ sage, dann meine ich damit Interaktion. Ein so simpler Vorgang wie das Einschenken eines Glases ist im Kontext mancher dieser Dinge ein großes, dramatisches Ereignis. Darin steckt eine ganz besondere Schönheit, weil es einem erlaubt, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und die ganz kleinen, alltäglichen Handlungen zu schätzen. Man stellt fest, dass sich das ganze Leben zusammensetzt aus diesen Beziehungen mit Dingen.“

Die Wohnung ist, selbstredend, ein beeindruckender Ko-Star in diesem Film. Manche der Reize, mit denen Nemo in seinem Luxusgefängnis konfrontiert wird, sind extreme Temperaturen, von sehr heiß zu eiskalt, oder Nässe und Trockenheit. „Es war gar nicht so einfach, sich Dinge einfallen zu lassen, die wir unserer Hauptfigur als Hindernisse in den Weg stellen konnten, weil sie ganz allein ist“, sagt Drehbuchautor Ben Hopkins. „Es gibt keinen Feind, der sie angreifen oder das Leben schwermachen könnte. Alles, was da ist, ist eine Wohnung. Also mussten wir unsere Fantasie spielen lassen und die Wohnung zu ihrem Feind machen. Die Wohnung selbst wendet sich gegen die Figur.“

INSIDE ist ein Film, in dem es letztendlich um Überleben geht, aber Katsoupis merkt an, dass er, weil es darum geht, im Inneren (und nicht draußen in der Wildnis) fortzubestehen, vom
Überleben „sowohl in einem Raum wie innerhalb der eigenen Seele“ erzählt. Er erklärt: „Unser Held erlebt all das, was man auch durchmachen müsste, wenn man als Gestrandeter auf einer isolierten Insel überleben will: Man muss mit unvorhersehbaren Zuständen umgehen, mit dem ,Wetter‘, Hunger, Durst, den Körperfunktionen; Verzerrung der Realität, Zeit, Persönlichkeit; die Hoffnung auf einen imaginären Freund. Und all das geschieht in einem natürlichen Habitat des Luxus.“
 
Der Regisseur verbrachte ein Jahr damit, sich mit architektonischer Evolution und Semantik zu befassen, was sich, wie er findet, als sehr fruchtbar erwies, als er das Projekt mit  Szenenbildner Thorsten Sabel genauer unter die Lupe zu nehmen begann. „Thorsten teilte  meine Begeisterung. Aus der Perspektive des Szenenbilds war es eine Traumaufgabe“,
berichtet Vasilis Katsoupis. „Gemeinsam behandelten wir das Penthouse wie einen riesigen Vogelkäfig aus Glas und Zement – wo Kapitalismus auf Brutalismus trifft. Die Materialien, die
wir verwendeten, waren minimal, kalt. Sie intensivierten das ablehnende Wesen des Hauses und ließen die Kunstwerke noch mehr hervorstechen.“

Dafoe sagt ebenfalls, dass er sich stark auf den Raum selbst verließ, der ein Eigenleben zu besitzen scheint. Immer wieder erschien es ihm, als würde ihm das Umfeld sagen, was er zu
tun habe. „Man reagiert darauf, weil es sich um ein kontrolliertes Umfeld handelt“, sagt er. „Wir kommen da rein in Dunkelheit und mit künstlichem Licht, und das stellt verrückte Dinge mit
einem an, weil es den eigenen Zeitsinn aushebelt. Ich wusste nie, wie spät es war, als wir arbeiteten, und das war interessant, weil es ein erhebliches Element der Geschichte ist.
Obwohl es viele Fenster gibt, verliert die Zeit für diese Figur nach einer Weile ihre Bedeutung, weil sie gefangen ist und wenig Aussicht auf Hoffnung besteht.“ Aus praktischen Gründen wurde der Film chronologisch gedreht – wegen des sich beschleunigenden Verfalls, dem sich die Wohnung ausgesetzt sieht. Die zunehmende Auflösung des Hauses gab Dafoe einen natürlichen Rhythmus vor, was überraschende Vorteile mit sich brachte. „Wenn man in Realzeit dreht, kann man sich gehen lassen“, sagt Dafoe lachend. „Man lässt die Haare wachsen. Man lässt die Nägel wachsen. Man wird dreckig. Man wäscht sich nicht die Haare. Vielleicht verliert man im Verlauf des Drehs auch ein bisschen Gewicht, weil man eine gewisse Vorstellung hat, wo man am Ende des Films landen wird und auf diese Weise die Veränderung spürbar wird. Jeden Tag wird man verwahrloster, man taucht immer tiefer ein mit seinem Körper, seinem Aussehen, seinem Geruch.“

Wenn Willem Dafoe über die Entwicklung seiner Figur im Verlauf des Films nachdenkt, dann hält er fest, dass Nemo sich gegen Ende der Handlung in vielleicht unerwartete kreative und
spirituelle Richtungen bewegt hat. „Der Film ist eine Meditation darüber, was Menschen im Leben brauchen und was Menschen im Leben suchen“, erklärt er. „Sehen Sie sich einen Typ
wie Nemo an, der aus seinem Alltag gerissen wird und in eine Situation gerät, wo ihm nach und nach alle seine üblichen Gewohnheiten und seine üblichen Freuden genommen werden.
Es ist eine Studie darüber, was Menschen brauchen und was sie am Laufen hält, wenn ihnen die Dinge, die ihnen immer wichtig waren, genommen werden, wo sich ihr Verstand hinbewegt, was sie mit ihren Emotionen anstellen.“
FORTSETZUNG FOLGT

Foto:
©Verleih

Info:
Inside, USA, 2022
Regie: Vasilis Katsoupis
Drehbuch: Ben Hopkins
Besetzung: Willem Dafoe, Gene Bervoets, Eliza Stuyck
105 Minuten 


Im Rahmen der Berlinale hatte unser Autor HWK den Film schon gesehen und in seinen Artikel aufgenommen. Die Redaktion
https://www.weltexpresso.de/index.php/kino/27604-ein-geplantes-kettensaegen-massaker_559