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Kategorie: Film & Fernsehen
Download 7Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 8. Mai 2025, Teil 10

Redaktion

Paris (Weltexpresso) – Warum haben Sie Komödie, Horror und Fantasy mit dem so sensiblen Thema sexualisierte Gewalt verbunden? Wie hat alles angefangen?

Vor etwa vier Jahren begann ich allein mit dem Schreiben. Am Anfang stand der Wunsch, einer Situation zu entfliehen, die mich nicht mehr erfüllte. Zuflucht fand ich bei meinen Freundinnen, darunter Sanda Codreanu, die im Film Nicole spielt. 

Sie lebt mit ihren Schwestern zusammen, die auch sehr gute Freundinnen sind. Das war eine ganz andere Lebensdynamik. Noch nie hatte ich allein und noch nie mit anderen Frauen zusammengelebt. Das hat mir sehr gut getan. Wir sprachen ständig über unsere Träume, Traumata, Sehnsüchte und die patriarchale Unterdrückung. Gegenüber wohnte ein Mann - ganz anders als der Nachbar im Film - und wir konnten sehen, wie er uns beobachtete. 

Neugierig beobachtete er unsere Freiheit, die Nacktheit, die wir uns in der Gesellschaft der anderen gewährten, keine verführerische Nacktheit, sondern eine des wiedergefundenen Vertrauens, des  körperlichen Loslassens. Das war mein Ausgangspunkt für den Film, ein starker, befreiender Drang nach Humor, Gore, Exzess, Absurdität und Fantasie. Eine Kombination von Genres also, die die Vielfalt der Botschaften widerspiegelt: die Anklage der Unterdrückung, aber auch und vor allem die Würdigung der Befreiung davon. 


Diese Kombination der Genres ist charakteristisch für den Film. Wie erklären Sie sich die anhaltende Spannung im Film?

Ich mag diesen Stil sehr, er entspricht mir in meinem Innersten. Es erschien mir die interessanteste Art zu sein, das Weibliche zu beschreiben und all das zu erforschen, worüber ich erzählen wollte. Ich
wollte eine Mischung aus Farben und Texturen. Einen überschwänglichen Film, der mit schlechtem Geschmack und Vulgarität kokettiert, aber auch mit Humor, einer gewissen Poesie und starken Themen, die mir sehr am Herzen liegen: die weibliche Intimität, Vergewaltigung und ihre Folgen, patriarchale Unterdrückung. Schnell hatte ich eine ungezügelte Punk-Farce im Kopf, mit Figuren, mit denen man sich identifizieren kann. Meine eigenen Erfahrungen flossen mit ein. Die Vergewaltigungen, die die Figuren erleiden, habe ich selbst erlitten. Nur mit dem Stilmittel des Humors konnte ich das verfilmen und gleichzeitig Distanz wahren. Komik und Satire sind für mich starke Waffen. Ich hoffe, dass dieser Film nicht nur befreiend wirkt, sondern auch Menschen zum Lachen und Nachdenken anregt.


Gemeinsam mit Céline Sciamma haben Sie das Drehbuch verfasst. Wie war die Zusammenarbeit?

Von Anfang an hatte Céline Sciamma das Film-Development aus der Ferne verfolgt. Dann bot sie mir begeistert an, mir beim Schreiben des Films zu helfen. Seit “Portrait einer jungen Frau in Flammen” sind wir in Kontakt geblieben. Céline kennt meine Welt sehr gut und versteht meine Persönlichkeit und meine Art zu schreiben, die ziemlich ausschweifend und unstrukturiert ist. Der Prozess war sehr fließend. Céline machte Vorschläge, ohne mir etwas aufzuzwingen, und verstand dabei meine Intuitionen - meinen Hang zum Genre und zur Komödie, das etwas Verrückte, die Geister, die für mich wesentlich sind. Sie half mir, die Struktur zu stärken, um dem Film mehr Freiheit zu geben, die Figuren und die Handlung zu bereichern und eine Art schwesterliche Poesie zu entwickeln.


Nicole, eine der Heldinnen, ist Schriftstellerin und nimmt an einem Online-Coaching für kreatives Schreiben teil. Sehr schnell stellt sie vorgefasste Formate und Schemata in Frage.
Ist das auch Ihre Art zu schreiben?

Nicole - das war übrigens eine Improvisation von Sanda - sagt im Film: „Lieber irre ich mich mit meiner Idee, als dass ich mit den Ideen der anderen richtig liege“ Das ist auch meine Denkweise. Mir gefällt der Gedanke, dass Risikobereitschaft ein Weg ist, sich selbst zu finden. Indem ich mich von vorgefertigten Methoden und Ideen entfernte, hatte ich das Gefühl, eine Form von Aufrichtigkeit zu erreichen, die mir angesichts der Themen, die ich in diesem Film behandeln wollte, notwendig erschien.

Ich wollte mit den Codes des männlichen Blicks, des weiblichen Objekts und der geheimnisvollen Frau spielen und dabei die klassischen Erzählweisen umgehen. Dieser Wunsch, Codes neu zu
erfinden, auch wenn man Fehler macht, ist es auch, wovon Nicole im Film spricht. Den eigenen Balkon, die eigene Komfortzone verlassen. Die Perspektive wechseln, sich in andere hineinversetzen, sich unsere Geschichten neu aneignen, auch die von sexualisierter Gewalt. Es ging zum Beispiel darum, die Vergewaltigung von Ruby nicht zu zeigen und ihrer Figur zu glauben, dafür aber die Vergewaltigung von Élise in der he, die so selten gezeigt und wenig verstanden wird, filmisch
darzustellen.



Alle drei Hauptprotagonistinnen Ihres Films haben eine starke Persönlichkeit. Wie haben Sie die Figuren entwickelt?

Als ich die Geschichte entwarf, wollte ich mir zunächst Zeit nehmen, um die drei Charaktere vorzustellen, ihre Persönlichkeiten, ihre Probleme, die Lebensfreude der einen, die verhinderten Träume der anderen, den Schock der Vergewaltigung. In einem Moment verlieren wir vorübergehend eine der Figuren. Céline hat mir an dieser Stelle sehr geholfen. Wir brauchten dieses Verschwinden, dieses Gefühl der fast vollständigen Abwesenheit. Außerdem hat es mir sehr viel Spaß gemacht, einen Film mit drei Hauptfiguren, einer schwesterlichen Gruppendynamik und individuellen Handlungsbögen zu schreiben, aus denen jede Frau ausbrechen kann.

Nicole, die idealistische Träumerin und Schriftstellerin. Sie kämpft mit dem Widerspruch zwischen ihrem Bedürfnis, so zu sein, wie sie ist, und alten, toxischen Mustern, wie dem Wunsch, von den Männern geliebt, gesehen und gehört zu werden.

Sie sitzt auf ihrem Balkon und schreibt, geht nicht mehr hinaus, weil ihr die Welt feindlich erscheint. Aber sie versucht, schreibend eine neue Welt zu erfinden, in der es sich gut leben lässt. Mir gefällt der Gedanke, dass man sich fragen könnte, ob die Erzählung des Films nicht das ist, was sie gerade schreibt.

Ruby, das freie und leidenschaftliche Camgirl. Gleich zu Beginn wird sie in einer Dreierbeziehung mit einem Mann und einer Frau vorgestellt. Es war mir wichtig, einen Charakter zu zeigen, der zu sich
selbst steht, der glücklich ist, der lebt und der die Regeln der Liebe neu definiert. Sie ist eine Frau, die liebt, was sie tut, die sich durchsetzt, die provokativ ist, die sich nicht alles gefallen lässt. Nach dem Drama, das sie durchlebt, bleibt sie die treibende Kraft in ihrem eigenen Leben, vor
allem dank ihrer Freundinnen, die an sie glauben und für sie da sind.

Élise, die hingebungsvolle, ängstliche Schauspielerin. Sie steckt in einer Krise, als sie im Marilyn-Monroe-Kostüm bei Nicole und Ruby auftaucht. Ich wollte mit ihr über eine Figur sprechen, die sich erdrückt  und gelähmt fühlt, über eine Rolle, die wir seit jeher verkörpern müssen: die geheimnisvolle, hingebungsvolle, mütterliche Frau, ein Fantasiewesen. In meinen Träumen sehe ich Marilyn, wie sie mit ihren Freundinnen in einem rettenden Kokon lebt und sich allmählich von dieser ikonischen Figur befreit, die sie nur daran hindert, sie selbst zu sein. Das ist Élises Weg, der mich zutiefst berührt. Marilyn existiert nur durch das männliche Begehren. Sie wurde dadurch und dafür geformt. Es hat Spaß gemacht und war ein Ventil, mit dieser Figur so
zu spielen.



Sie haben diesen Film unter ganz anderen Bedingungen gedreht als “Mi iubita mon amour” , mit einer längeren Drehzeit und mit größeren Ressourcen. Wie hat Sie das beeinflusst?

Meinen ersten Film habe ich amateurhaft in zwei Wochen und mit zwei technischen Crewmitgliedern gedreht. Bei dem aktuellen Film war jeden Tag ein ganzes Team im Einsatz und die Postproduktion
dauerte Monate. Als relativ ängstlicher Mensch hat mich das unter Druck gesetzt, aber letztlich fand ich es gut und konstruktiv. Denn diese Ressourcen ermöglichen auch Zeit zum Nachdenken und
Experimentieren, um komplexere Ideen für Inszenierung und Regie zu entwickeln. Um den Druck zu mildern oder ihm eine menschliche Dimension zu geben, habe ich mich mit Leuten umgeben, die ich
bereits kannte: Sanda, mein Produzent Pierre Guyard, der bei der Postproduktion meines ersten Films an Bord kam, Céline, die sich während des gesamten Prozesses mit mir austauschte, und meine technische Crew, Tonmeisterin Armance Durix und Kamerafrau Evgenia Alexandrova, mit der ich jetzt sehr eng befreundet bin.



Welche besonderen Themen und ästhetischen Entscheidungen haben Sie mit Evgenia und dem Team im Allgemeinen besprochen?

Ich wusste, dass ich das Publikum auf eine aufwendige Reise mitnehmen und in der ästhetischen Gestaltung von Kostümen, Farben und Szenenbild weit gehen wollte. Der Geschichte, die manchmal mit Horror und Fabel kokettiert, musste die Form folgen, mussten die ästhetischen Entscheidungen mussten Exzess und Farce mit sich bringen. Ich wollte mit unserer Vorstellungswelt und unseren
Codes spielen. Den ersten Teil, farbenfroh und fröhlich, wollte ich so gestalten, als würden wir in eine verrückte, romantische Komödie eintreten, mit dem Kino von Almodóvar im Hinterkopf. Eine explosive Mischung aus Farbe, Übertreibung und Leben, die den Frauen Spielraum für Vulgarität lässt und ihnen dadurch wieder Raum gibt. Diese „gesunde Vulgarität“ erforderte auch, die Frauen in einer gewissen Lockerheit zu filmen und sich von der Sexualisierung der Körper zu entfernen.

Von Pupsen bis zu Zellulitis, weg mit der geheimnisvollen Fantasiefrau! Ich liebe diese schillernden Figuren, diese lauten Frauen mit Charakter. Manchmal sind sie fast wie Karikaturen, wie Comicfiguren. Im zweiten Teil, in der Wohnung des Nachbarn, wollte ich, dass der Film in Richtung Thriller, Fantasy und Horror kippt. Visuell mussten wir ins Grüne, ins Beklemmende gehen, aber gleichzeitig die Linie der Komödie, des Absurden beibehalten. Wir dachten dabei an koreanische und japanische Thriller wie “The Strangers” und “The Chaser” von Na Hong-jin oder den sehr trashigen “Ichi the Killer” von Takashi Miike. Oder auch an Tarantino und “Death Proof” oder an all die Gore-Filme, die ich als Kind mit meiner Schwester gesehen habe,und an die genresprengenden Geisterfilme mit viel Humor. Einige Szenen waren genau geplant, choreographiert und geschnitten,
andere drehten wir mit der Handkamera wie zum Beispiel die Party-Szene. Eine weitere wichtige Referenz, über die ich mit Evgenia gesprochen habe, war Vera Chytilovas “Tausendschönchen”
, weil er die Intimität von Frauen so zeigt, wie man sie noch nie zuvor gesehen hat.



Wie in Ihrem Debütfilm führen Sie auch hier Regie und spielen die Hauptrolle. Was verändert das an Ihre Herangehensweise an die Figur?

Als Regisseurin habe ich am Set weniger Zeit, jede Einstellung zu überprüfen, zu reflektieren und Abstand zu gewinnen. Und als Schauspielerin habe ich nicht die Zeit, jede Darstellung zu analysieren.
Aber ich hatte meine Figur schon beim Schreiben so weit vorbereitet, dass ich wusste, wohin ich in jeder Szene gehen musste und mir dadurch mehr Freiraum verschafft. Und als ich dann spielte, fühlte ich den Film von innen heraus und wagte es, so weit zu gehen, wie ich es als Regisseurin nie für möglich gehalten hätte.



Wie sind Sie auf Souhelia Yacoub und Sanda Codreanu als Ihre Trio-Partnerinnen im Zentrum des Films gekommen?

Als ich am Film schrieb, dachte ich bereits an Sanda, denn sie eine Frau ist, die mich im Leben sehr inspiriert. Sie ist eine ausgezeichnete Schauspielerin, die viel Theater gespielt hat und eine Einzigartigkeit besitzt, die mich sehr berührt. Für Nicole brauchte ich jemanden, der körperlich fremd und schüchtern ist, aber dennoch seine Ideen durchsetzt. Außerdem beginnt der Film mit ihr, mit ihrem Zuhause. Ich finde, Schauspielerinnen wie Sanda sehen wir nicht so oft in Filmen. Ich bat sie, sich Kwak Dowon in “The Strangers” und Whoopi Goldberg mit einer sehr burlesken Seite in “Ghost” anzusehen. Sanda hat viel zu den Dialogen ihrer Figur beigetragen. Sie hat einen Sinn für Schlagfertigkeit und Rhythmus, der es ermöglicht, eine Szene schnell zu entwickeln.

Für Ruby habe ich viele Schauspielerinnen gecastet. Aber die Probeaufnahmen mit Souhelia haben mir die Entscheidung leicht gemacht. Sie ist sehr instinktiv, sehr ehrlich. Sie hat eine raue, vibrierende Seite. Wir haben die Rolle gemeinsam gesucht und gefunden.



Und Lucas Bravo als der Nachbar, der gegenüber wohnt?

Für diese Rolle suchte ich einen attraktiven Mann, aber vor allem einen sehr guten Schauspieler, der in der Lage ist, Stimmungen zu wechseln, Frauen zu bezaubern und ihnen Unbehagen zu bereiten. Lucas hat eine unglaubliche Präsenz und zögert nicht, mit dem Image zu brechen, das er in “Emily in Paris” hat. Für mich ist die größte Qualität eines Schauspielers, wenn er keine Angst davor hat, sich lächerlich zu machen.



Der Nachbar, der die Protagonistinnen fasziniert, ist Fotograf. Das Drama spielt sich während eines Fotoshootings mit einer der Frauen ab. Diese Konstellation ist das genaue Gegenteil der Beziehung der Figur von Adèle Haenel in “Portrait einer jungen Frau in Flammen”. Wie gehen Sie mit dem Thema Muse-Pygmalion um?

Ich habe als Model angefangen und das, was mit Ruby passiert, basiert auf meinen persönlichen Erfahrungen. Überall im Film gibt es wahre Geschichten und Anekdoten, wie die Models, von denen der Fotograf sagt, er wolle ihre Seele einfangen, obwohl sie nackt sind und einen Sack über dem Kopf tragen! Hinter dieser Einstellung des Fotografen zur Kunst steht die Idee des Besitzes, der Herrschaft und die Idee, im kreativen Prozess durch Konflikt und Tyrannei zum “Wahren” zu
gelangen. Viele Künstler arbeiten immer noch auf diese Weise. Dank Menschen wie Céline Sciamma habe ich erkannt, dass ein ganz anderer kreativer Prozess möglich ist. Das ist es, was Nicole mit ihrem Schreiben versucht. Es ist eine andere Art der Suche nach Wahrheit und Sinn. Weil unsere ganze Gesellschaft auf dieser Dynamik und auf diesem Machtgefüge basiert, ist es kompliziert. Denn es ist schwieriger, ein Werk im Team zu schaffen, und doch bringt es so viel mehr. Noch immer braucht es einen Dirigenten. Aber der Blick sollte horizontal und offen für den Dialog sein, so dass man zugeben kann, dass man es nicht weiß, dass man es vermasselt hat oder dass ein anderer eine bessere Idee hat.



Die Männer im Film verkörpern immer „problematische und bedrückende“ Situationen. War das Absicht?

Ja, das ist die Prämisse des Films, eine Art Albtraum. Als ob sie alle einen Tag lang das Wort ergriffen hätten. Das wird bis zum Äußersten getrieben, damit es zum Grundton passt. In diesem Film geht es um Aggression und Aggressoren. Dabei wollte ich nicht in die PC-Falle tappen, in der eine oder mehrere männliche Figuren es für die anderen wieder ausgleichen. In meinem Film nehmen die die Aggressoren und Unterdrücker den ganzen Raum ein, und diese Metapher führt dazu, dass man die anderen, „die Guten“ , die verstehen, weder sieht noch hört.

Wo sind sie? Das ist die Frage, die wir uns stellen sollten. Ich wollte auch zeigen, dass es, wie bei Paul, dem Partner von Élise, Liebe, Verwirrung und den aufrichtigen Versuch zu verstehen geben kann, auch wenn er in einem toxischen Verhaltensmuster gefangen ist. Trotzdem gefällt mir der Gedanke, dass es Momente gibt, in denen man Zärtlichkeit für ihn empfindet. 

Denn die Täter sind nicht immer Monster - oft auch nicht - sondern Menschen, die auch Qualitäten haben können. Ich hoffe, dass man versteht, warum Élise sich einst ein gemeinsames Leben mit ihm
vorstellen konnte und warum sie ihn liebte. Und warum sie es jetzt nicht mehr kann.

Foto:
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Info:
Regie.  Noémie MERLANT

Darsteller
Noémie Merlant - Élise 
Souheila Yacoub - Ruby 
Sanda Codreanu - Nicole
 Lucas Bravo - der Nachbar 
Nadège Beausson-Diagne - Denise 
Christophe Montenez - Paul

Spielfilm | F | 2024 | 104 Min. |
Farbe | DF, OmU (Französisch) &
OmeU | DCP-2K | 1,85:1 | 5.1 | FSK 16