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Kategorie: Film & Fernsehen
vorkosterinnenSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. Mai 2025, Teil 4

Redaktion

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Sie zeichnen das Porträt einer Frau von heute, die entschlossen, mutig, leidenschaftlich und gleichzeitig Analphabetin ist. Gab es sie wirklich?

Touda ist die Nachfolgerin der Heldinnen in der Rebellion gegen alle etablierten Mächte, der Sheikhats. Ihre Stimme war ihre Waffe und ihre Art zu singen, die Aita, ihre Munition. Das ist es, was Touda ist. Sie will Grenzen und Verbote überwinden, sie kämpft gegen alle Formen der Herrschaft. Der Film wird vom Geist dieser Rebellion getragen.


Die Aita ist ein marokkanischer Musikstil. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Die Aita ist eine Form der Vokalpoesie, die vor mehreren Jahrhunderten in den Ebenen Marokkos entstand. Ursprünglich wurde sie von Männern gesungen, weil das Frauen damals verboten war. Früher waren es die Mitglieder eines Stammes, die sich abends zusammensetzten und Geschichten über ihre Region, ihre Kämpfe und ihre Erlebnisse aufschrieben... Diese gesungenen Geschichten haben eine epische Dimension und wanderten durch das Land, von einem Tal zum anderen, bis sie eine Aita bildeten. Im neunzehnten Jahrhundert beschloss eine mutige Frau, Kharboucha, die Tabus zu brechen und zum ersten Mal öffentlich zu singen. Diese Frau wurde berühmt, weil sie sich einem Qaid stellte, einem mächtigen Herrscher, der sich in sie verliebt hatte. Sie widersetzte sich ihm, und der Legende nach ließ er sie bei lebendigem Leibe einmauern. So wurde diese Kunst dank ihr eine weibliche Kunst. Diese Frauen, später Sheikhas genannt, bereicherten ihr Repertoire, indem sie in ihren Liedern für die damalige Zeit subversive Themen wie Begehren, Körper und Liebe aufgriffen. Ihre Freimütigkeit und die Freiheit, die sie sich erlaubten, verliehen ihnen schnell einen besonderen Status: stark, entschlossen, avantgardistisch. Zunächst sangen sie in den Dörfern, dann kamen sie in der ganzen Welt herum, und die Aita reiste mit ihnen von den Ebenen bis zum Atlasgebirge.


touda 2Wie werden diese Sheikhas in Marokko wahrgenommen?

Die Sheikhas (weiblich von Sheik) wurden vom gesamten marokkanischen Volk bewundert und verehrt. Sie verkörperten die Seele Marokkos, seine Stimme, denn sie waren Teil eines jeden Kampfes. In den 60er und 70er Jahren war das Land arm und viele Sheikhats mussten in die Städte ziehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dort waren sie gezwungen, ihr Repertoire zu ändern um zu überleben, auf die Wünsche des Publikums einzugehen und in Kabaretts zu singen. Der Anblick von Frauen, die an anrüchigen Orten auftraten, eine Show abzogen und Alkohol tranken, reichte jedoch aus, um die meisten von ihnen mit Prostituierten in Verbindung zu bringen. Nach und nach verschlechterte sich ihr Image. Vom Status der Bewunderung wurden sie von Menschen verachtet, für die schon das Wort "Scheicha" zu einer Beleidigung geworden war - es entstand eine Art Hassliebe. Einige Sheikhats wurden erfolgreich und erlangten Status, aber ihr Ansehen in den Augen eines Teils der Bevölkerung wird immer in Frage gestellt....Das macht mich traurig und schmerzt. Ich wollte diesen Künstlern wieder zu ihrem früheren Ruhm verhelfen. Das ist die treibende Kraft von Touda - einen Status wiederherzustellen und eine Tradition zu verteidigen.


Ihr Film beunruhigt, weil er ständig auf der Kippe steht, wie ein Drahtseilakt, der das Porträt dieser jungen Frau zeichnet, die singt…

Sheikhats sind seit langem Teil meiner Filme, weil ich sie schon immer fesselnd und berührend fand und ich wollte, dass sie eines Tages im Mittelpunkt einer meiner Geschichten stehen. Ich habe starke Frauen immer bewundert, wahrscheinlich weil ich mit einer starken Mutter aufgewachsen bin. Ich wusste immer, dass ich ihnen eine Stimme geben wollte. Ich habe viele getroffen, sie erzählten mir von all den Paradoxien, all dem Herzschmerz, den sie durchmachen: die Macht, die sie sich aneignen, um sich Raum zu schaffen. Sie werden erdrückt von einer patriarchalischen Gesellschaft, die ihnen ihr Repertoire diktieren und sie in eine Welt sperren möchte, die sie zu einer Ware macht. Das ist es, was mich interessiert, wie man sich dieser modernen Welt widersetzen kann, die sie zähmen will. Die Aita ist in erster Linie ein Widerstandslied.


Zu Beginn werden wir Zeuge einer Partyszene, die schief geht. Sollte die Geschichte mit dieser Party beginnen, die sich in einen Albtraum verwandelt?

So ist ihr Leben. Die Ausschnitte aus dem Leben, die mir diese Frauen erzählten, haben mich genährt, Geschichten, die mich manchmal sprachlos machten. Es ist hart, aber es ist eine Realität. "Das ist unser Alltag", sagte mir die Scheikha, die zu Beginn des Films mit Touda tanzt. Diese Frauen leben ständig mit dieser Gewalt - sie sind allein und vor allem mittellos, aber sie haben eine Form der Resilienz, die sie durchhalten lässt. Eine außergewöhnliche Widerstandskraft. Ich wollte, dass diese Eröffnungsszene den banalen Abstieg ins Grauen verkörpert. Ich wollte auch die Brutalität der Erfahrungen zeigen, mit denen sie leben, und wie sie gezwungen sind, am nächsten Tag weiterzumachen, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Also ja, mit der Schönheit eines Liedes zu beginnen und dann in die Grausamkeit abzutauchen, die auch das Leben dieser Frauen ausmacht, erschien mir wichtig, um sofort und ohne Vorwarnung in ihre Realität einzutauchen.


Die männlichen Figuren sind nicht alle wohlwollend…

Aber manche schon. In der Welt des Nachtlebens gibt es nicht nur Schwarz und Weiß. Es gibt Männer, die diese Frauen beschützen und lieben. In Toudas Leben gibt es ihren Sohn Yassine, der alles für sie ist. Und dann ist da noch dieser alte Geiger, dessen Namen wir nie erfahren und der sie auf ihrem Weg nach oben begleitet. Außerdem ist da noch ihr Vater, ein ungewöhnlicher Charakter, der sie angesichts der öffentlichen Schande und der Ablehnung durch ihren eigenen Bruder unterstützt.


Der kleine Sohn von Touda ist taubstumm…

Ohne Yassine hätte Touda nicht die Kraft, die sie hat. Man könnte sagen, sie singt, um den Sehnsüchten ihres kleinen Jungen eine Stimme zu geben. Er kann nicht hören, was seine Mutter singt, aber er kann es wahrnehmen. Ihre Beziehung geht über Worte hinaus. Alles was sie tut, tut sie für ihn um ihm das zu bieten, was sie nicht hatte, angefangen bei der Bildung. Sie ist besessen davon, für ihn eine Schule zu finden.


Das Ende ist unerwartet, ja ambivalent.

Das stimmt, das macht es meiner Meinung nach noch intensiver. Einerseits wird Touda bewusst, dass sie sich in ihrer Vorstellung geirrt hat, es schaffen zu können, und dass sowohl in den Slums als auch unter den Reichen die Macht der Männer noch immer am stärksten ist. Auf der anderen Seite rebelliert sie und verlässt hoch erhobenen Hauptes das Hotel. Aber sie gibt ihre Träume nicht auf. Von dem Moment an, in dem sie die Bühne verlässt, wird sie mit der Realität und der Desillusionierung konfrontiert. Etwas bricht um sie herum zusammen. Es ist das Ende eines Traums, aber es ist auch der Beginn neuer Möglichkeiten. Alles, was sie seit Beginn des Films durchgemacht hat, sehen wir in ihrem Gesicht, auf eine herzergreifende Weise, sehr organisch, getragen von Nisrin Erradis atemberaubender Darstellung. Es ist sowohl ihr Mut als auch ihre Seele, die wir mit voller Kraft empfinden.


Die gesamte Szene wurde in einer einzigen Einstellung gefilmt…

Fast achtzehn Minuten lang in denen wir von der Entdeckung einer neuen Welt, zu ihrer Ablehnung, von der Hoffnung zur Desillusionierung gelangen. Eine ganze Einstellung, die auf einer Straße beginnt, uns durch eine Hotellobby führt, 37 Stockwerke hochfährt, durch Umkleidekabinen und ein Publikum streift, Touda bei ihrem Auftritt auf der Bühne begleitet, bis sie flieht und im selben Aufzug wieder hinunterfährt. Ich habe nicht unbedingt nach einer technischen Meisterleistung gesucht, aber in diesem Fall war es die einzige Möglichkeit, diese Szene zu filmen. Mit meinem Team haben wir diese Aufnahme 3 Monate lang vorbereitet. Wir sind Dutzende Male zum Hotel, dem höchsten Gebäude in Casablanca gefahren. Das war wirklich eine riesige Herausforderung. Ich erspare Ihnen die Details, aber in dieser Phase der Dreharbeiten waren an diesem Abend mehr als 250 Leute anwesend, und ich dachte schon, ich sei verrückt, weil ich dachte, es sei möglich, dies in einer einzigen Sequenz zu drehen. Das war schlichtweg utopisch. Dann, um 6 Uhr morgens, vielleicht durch die Erschöpfung und ein allgemeines Gefühl der "letzten Chance", geschah ein Wunder. Draußen auf der Straße fing es an zu regnen, und wie von Zauberhand fügte sich etwas ein, von dem ich dachte, dass es zum Scheitern verurteilt sei.


War der Regen ein Zeichen?

In Marokko hat der Regen eine große Bedeutung. Das Land lebt im Rhythmus des wohltuenden Regens, ein Zeichen für etwas Positives, denn wir haben ein ständiges Wasserdefizit. Wir verbringen unsere Zeit damit, auf den Regen zu warten. Er ist wie ein Anstoß, der einem ganzen Land Hoffnung gibt.

Fortsetzung folgt

Foto:
©Verleih

Info:
Stab
REGIE: NABIL AYOUCH
DREHBUCH: NABIL AYOUCH
MARYAM TOUZANI

Besetzung 
TOUDA: NISRIN ERRADI
YASSINE: JOUD CHAMIHY
RKIA: JALILA TLEMSI
GEIGER: EL MOUSTAFA BOUTANKITE
LIEBHABER: LAHCEN RAZZOUGUI


PRODUKTIONSLAND: FRANKREICH, MAROKKO, BELGIEN, DÄNEMARK, NIEDERLANDE, SPRACHEN: ARABISCH 
FRANZÖSISCHE ORIGINALVERSION
DEUTSCHE SYNCHRONISATION
UNTERTITEL: DEUTSCH | ENGLISCH | FRANZÖSISCH | BARRIEREFREI
TONFORMAT: 5.1 SURROUND
BILDFORMAT: 1:1:85

Abdruck aus dem Presseheft