Ein Film von Bernd Sahling über den 12jährigen Karl
Holger Twele
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Früher hatten viele Schulen eine Dunkelkammer im Keller, in dem die Jugendlichen ihre analogen Filme selbst entwickeln und von den Negativen Bilder auf Papier vergrößern konnten. Die Entwicklerflüssigkeiten und das Fixierbad strömten zwar einen Geruch aus, der nicht jedermanns Sache ist und bei längeren Aufenthalten in der Dunkelkammer das kleine Erfolgserlebnis zu einem Glücksgefühl in schwindelerregende Höhen trieben. Umso stärker wirkte dann der geradezu magische Moment, in dem die vergrößerten Bilder in der Flüssigkeit langsam sichtbar wurden, Kontur annahmen und nur noch fixiert und gewässert werden mussten. Manche der so hergestellten Vergrößerungen offenbarten plötzlich ein bisher kaum wahrgenommenes Detail im Bild.
Oder es handelte sich gar um Fotos von Menschen, die man besonders schätzte oder in die man gerade schwer verliebt war. Mit dem Siegeszug der digitalen Fotografie und mit den schier unbegrenzten Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung sind solche magischen Momente des Zauberns mit Licht, Silber und Flüssigkeiten immer seltener geworden, was nicht heißt, dass sie ganz am Verschwinden sind.
Der neue Spielfilm von Bernd Sahling beginnt mit einer solchen Szene in einem einfach ausgestatteten Badezimmer-Labor. Sahling, der im DEFA Spielfilmstudio Babelsberg und an der HFF Potsdam sein Handwerk erlernte, mit „Die Blindgänger (2004) sein Spielfilmdebüt gab und neben mehreren Dokumentarfilmen mit „Kopfüber“ (2013) seinen zweiten Spielfilm drehte, ist mit seinen Werken längst eine feste und unverwechselbare Größe im Bereich des deutschen Kinderfilms, selbst wenn er bislang nur etwa alle zehn Jahre einen Langspielfilm realisieren kann. „Ab morgen bin ich mutig“ (2025) ist zwar kein autobiografischer Film, aber ein Film, der unübersehbar mit der Vergangenheit und Gegenwart des Filmemachers verbunden ist. Als begeisterter Fotograf entwickelte er als Jugendlicher selbstverständlich seine Bilder selbst und bis heute führt er Workshops mit Kindern und Jugendlichen durch, in denen die Fotografie und das Filmemachen gleichermaßen im Mittelpunkt stehen. Diese Workshops beziehungsweise deren Ergebnisse fanden sogar unmittelbaren Einfluss in den Film. Und wie der zwölfjährige Karl, die Hauptfigur des neuen Films, war er als Kind nicht besonders groß, was besonders tragisch ist, wenn man sich in ein gleichaltriges Mädchen verliebt. Denn Lea ist einen Kopf größer und sogar die Größte in der Klasse. Selbst mit der geglückten Einweihung in die Geheimnisse der Dunkelkammer-Arbeit lässt sich da nicht wirklich punkten und beeindrucken.
Lea und Karl gehen beide in die sechste Klasse und es ist kurz vor den Sommerferien. Karl hat daher nicht mehr viel Zeit, um herauszufinden, ob Lea ihn vielleicht auch liebt. Denn nach den Sommerferien gehen beide auf getrennte Schulen. Rein sportlich gelingt es ihm nicht, Lea besonders zu beeindrucken. Beim Klettern an der Stange wird er nur Zweiter, aber immerhin macht er mit der Eisenstange zwischen den Beinen ganz neue Erfahrungen, die er bisher nicht kannte. Der Besuch eines Schuhladens, um sich Schuhe mit höheren Sohlen zu kaufen, läuft vorerst ins Leere. Den Eltern möchte sich Karl mit seinen Problemen jedenfalls nicht anvertrauen. Dafür hat sein älterer Bruder Tom, der in einer Schülerband spielt, ein offenes Ohr für ihn. Von ihm erhält er den Rat, mit Lea etwas gemeinsam zu unternehmen. Doch der Zauber der Dunkelkammer führt bei Lea auch nicht zum Erfolg. So bleibt Karl zum Schuljahresende nur noch ein Aufenthalt im Schullandheim, bei dem die Kinder gemeinsam ein Projekt entwickeln sollen. Karls Vorschlag, einen Film über das zeitlose und universelle Thema „Verliebt“ zu drehen, findet allgemeine Zustimmung. Und schon bald machen sich alle an die Arbeit, mit Karl als Kameramann und Lea als Reporterin, um jüngere und ältere Menschen über ihre Erfahrungen mit dem Verliebtsein zu befragen. Wie und ob überhaupt es mit Lea weitergeht, erfährt Karl allerdings erst ganz am Ende und sein Bruder Tom spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle.
Die Filme von Bernd Sahling zeichnen sich alle durch große Authentizität aus, wobei ein außerordentliches Gespür für die Gefühle, Stimmungen und Probleme von jungen Menschen die Grundvoraussetzung ist. Sahling nimmt die Hauptfiguren in seinen Realfilmen über das Alltagsleben von jungen Menschen wirklich ernst, das wirkt mitunter sogar dokumentarisch. Natürlich tragen seine Erfahrungen aus den Workshops dazu bei, die unmittelbar in den Film eingeflossen sind und nicht ganz nebenbei die Sinnhaftigkeit von film- und medienpädagogischer Arbeit unter Beweis stellen. Jonathan Köhn als Karl spielt seine Rolle rundum überzeugend, wobei der Eindruck entsteht, er würde gar nicht in eine Rolle schlüpfen, sondern sich in seiner Unsicherheit und Verletzlichkeit selbst zeigen. Der Intensität des Film zugute kommt die Arbeitsweise des Regisseurs. Sahling weiß intuitiv offenbar genau, was er sich von seinen Darstellern erwarten kann, ohne sie zu überfordern. Als Karl beispielsweise, der nicht gut tanzen kann, in einer Tanzszene mit anderen Mädchen auf Lea trifft, die auch im echten leben eine gute Tänzerin ist, fühlte sich der Darsteller genau so unsicher und überflüssig, wie es das ihm gar nicht bekannte Drehbuch vorsah. Manchmal kommt dem Regisseur auch der Zufall zu Hilfe, etwa bei der echten Schülerband von Tom, die in Bonn gefunden wurde. Oft sind es die ersten Takes, die genommen werden, weil sie noch am natürlichsten wirken und in keiner Weise gestellt sind. Dazu gehört, dass die Kinder immer nur situativ auf die jeweilige Szene eingestellt sind und nicht auf bestimmte Verhaltensweisen getrimmt werden. Darüber hinaus ist Sahling immer offen für unerwartete Ereignisse, die gekonnt sofort in den Film integriert werden: Die heißere Stimme von Karl in einer Szene etwa, die nicht gestellt ist, denn der Darsteller erschien an diesem Drehtag wirklich mit heißer Stimme. Oder die Szene mit Karl und Lea an der Trockenpresse, als der unvorhergesehene Regen durch das Glasdach tropft, eine eher unwirtliche Atmosphäre schafft und die körperliche Annäherung zwischen den beiden Kindern umso begreiflicher macht. Szenen wie diese machen den Film zu einem außergewöhnlichen Filmerlebnis.
Der Film hatte seine Festivalpremiere auf dem BUFF-Filmfestival im schwedischen Malmö. Danach lief er auf dem norwegischen Kinderfilmfestival in Kristiansand und auf dem Kinder- und Jugendfilmfestival im tschechischen Zlín. Beim Deutschen Kinder und Medienfestival GOLDENER SPATZ in Gera und Erfurt läuft der Film gerade (Anfang Juni 2025) im Wettbewerb und danach auf vielen weiteren deutschen und internationalen Filmfestivals, darunter beim SCHLINGEL und beim LUCAS, bevor er im Oktober 2025 in den deutschen Kinos startet.
Foto:
© Bernd Sahling, Zeitgeist Filmproduktion
Info:
Ab morgen bin ich mutig
Deutschland 2025
Buch und Regie: Bernd Sahling
Kamera: Piotr Rosołowski
Ton: Jonathan Schorr, Filipp Forberg, Eeva Ojanperä
Schnitt: Evelyn Rack
Musik: REEB. Jürgen Ehle
Kostümbild: Nina-Sophie Brettschneider
Szenenbild: Svenja Matthes, Daniel Arnold
Darsteller*innen: Jonathan Köhn (Karl Seidel), Darius Pascu (Tom Seidel), Cheyenne Aaliyah Roth (Lea), Anna Bahners (Klara), Elijas Amerein (Jacob), Tamino Gottlebe (Max), Malvina Hoffmann (Lina), Niclas Meimberg (Hannes), Theresa Scholze (Frau Bender), Markus Friedmann (Herr Mattis), Juliane Pempelfort (Marta Seidel), Petra Kalkutschke (Tante Mechthild) u. a.
Produktion: Zeitgeist Filmproduktion, in Koproduktion mit Field Recordings Filmproduktion
Verleih: Real Fiktion Filmverleih
Kinostart: 23. Oktober 2025