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Kategorie: Film & Fernsehen
Bildschirmfoto 2025 08 06 um 23.23.14Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 7. Juli 2025, Teil 3

Redaktion 

Paris (Weltexpresso) - Was hat Sie dazu bewogen, Alice Ferneys Roman „L’intimité“ auf die Leinwand zu bringen?

Beim ersten Mal Lesen hat mich das Buch emotional sehr gepackt und mein Interesse war geweckt, insbesondere für die Figur der Sandra, die jedoch im zweiten Teil des Romans in den Hintergrund rückte. Ein paar Monate später besuchte mich Fanny Ardant und sah den Roman auf meinem Schreibtisch. Sie sagte mir, dass sie es gelesen habe und glaube, dass diese Geschichte wie für mich geschaffen sei... Mit dieser Anregung vertiefte ich mich erneut in die Geschichte, wobei ich mich auf das konzentrierte, was mich ursprünglich bewegt hatte: die Begegnung zwischen dieser sehr unabhängigen Buchhändlerin und ihrem Nachbarn, der plötzlich allein mit einem kleinen Jungen und einem Baby dastand... Und ich merkte, dass eine Verfilmung möglich war, wenn man Sandra wieder in den Mittelpunkt rückte...


Welche Themen haben Sie besonders angesprochen?

Mir gefiel die Idee, eine moderne Frau zu porträtieren, die nicht dem Diktat des Patriarchats unterworfen ist, die ihre Unabhängigkeit reklamiert, ein Singledasein lebt, das sie nie zu rechtfertigen versucht, eine relativ freie Frau also, die jedoch plötzlich durch die Zuneigung eines kleinen Jungen und dessen trauernden Vaters überrascht wird und deren Grundfeste dadurch erschüttern... Mir gefiel die Idee, dass eine Frau, die auf den ersten Blick nichts mit Kindern anfangen kann, dann doch eine Bindung mit einem Kind eingehen kann. 

Wie viele Frauen in meinem Alter – ich bin 50 Jahre alt – wurde ich als kleines Mädchen mit Märchen gefüttert, die mit einer Hochzeit und vielen Kindern enden, und als junge Erwachsene von der Gesellschaft dazu gedrängt, eine klassische Familie zu gründen. Mein Weg war jedoch ein ganz anderer – und ich musste mich viel zu oft für meine ungewöhnliche Situation rechtfertigen. Mutter zu werden, war für mich nie ein wichtiges Anliegen, aber mit 40 Jahren, vielleicht weil ich es leid war, mich immer nur um mich selbst zu kümmern, wurde ich neugierig auf die Mutterschaft und habe im Ausland ein Kind adopiert – allein. Als ich meine Tochter zum ersten Mal in den Armen hielt, wurde mir klar, dass unser Kennenlernen gerade erst begonnen hat. Zwar fühlte ich mich sofort verantwortlich, doch die Liebe, die ich heute für sie empfinde, war alles andere als selbstverständlich. Verbundenheit ist ein tägliches Konstrukt, das in dem Maße wächst, wie meine Tochter und ich uns kennenlernten: Das ist ziemlich erschütternd! Sandra muss am eigenen Leib erfahren, dass es unmöglich ist, gegen die Bindungen anzukämpfen, wenn sie sich uns aufdrängen. Dennoch war es mir sehr wichtig, dass sie eine gewisse Form der Unabhängigkeit bewahrt, dass sie bis zum Ende „frei“ bleibt und ihre Bindung an diese Familie freiwillig ist.
 

Sie haben den Film in Altersabschnitte des Babys unterteilt. Wollten Sie damit andeuten, dass Sie die Metronome unseres Lebens sind?

Mich hat immer wieder die unausweichliche Erkenntnis über den Lauf der Zeit beeindruckt, die Kinder, wenn sie heranwachsen, uns unweigerlich aufzwingen. Als ob jeder noch so kleine Fortschritt uns nicht nur verblüfft, wenn wir dafür sensibel sind, sondern uns auch signalisiert, dass alles Erworbene unwiderruflich erworben ist, und zwar nicht nur in puncto Leistung, sondern auch und vielleicht sogar besonders in emotionaler Hinsicht. Für Sandra gilt: wenn Liebe entsteht, lässt ihre wachsende Intensität kein Zurück mehr zu... Die filmische Einteilung erleichtert den Umgang mit Ellipsen und den Wechsel der Jahreszeiten, verkörpert aber auch die Unumkehrbarkeit der vergehenden Zeit und mit ihr die zunehmende Stärke der Verbundenheit. Die Geburt von Lucille geht einher mit dem Tod der Mutter. Die Abschnitte
markieren auch die Zeit, die Alex braucht, um die Trauer zu durchlaufen und sich zu erlauben, einen neuen Ansatz für sein Leben zu finden.



In Ihrem vorherigen Film stand der Tod vor der Tür. In diesem Film ist der Tod schon geschehen. Inwiefern ändert das alles?

IM HERZEN JUNG war ein Melodram: Die Krankheit der von Fanny Ardant verkörperten Figur wird von Anfang an angekündigt und erzeugt eine dramatische Spannung, die über der gesamten Erzählung schwebt und den Effekt hat, dass jeder Moment, der ihr noch zu leben bleibt, intensiver wird. Hier ist es a priori umgekehrt: Der Tod tritt bereits in den ersten Minuten des Films ein, aber er fällt mit einer Geburt zusammen, was die Figuren davor bewahrt, völlig zusammenzubrechen. Alexandre hat nach einer Zeit tiefer Melancholie keine andere Wahl, als das Leben zu umarmen, und ich verwende diesen Begriff mit Absicht, denn es ist kein Zufall, dass er sich zweimal verliebt, obwohl seine Frau erst vor kurzem gestorben ist. So wie Shaunas angekündigter Tod in IM HERZEN JUNG ein Verstärker für die Leidenschaft ist, die Pierre für sie empfindet, so wirkt dieser doppelte Schlag (Tod/Leben) auf Alex wie ein Beschleuniger für seine Gefühle. In diesem emotionalen Wirbelsturm erzwingt er seine Rückkehr zur Freude und zum Leben, indem er sich zu schnell und zu stark an Emillia in einer hypothetischen Zukunft sieht, die er zugleich mit der Ehe koppelt.



Der Film hätte auch „Auf das Leben“ heißen können ?

Ich habe diesen Ausdruck aus der jüdischen Tradition (hebräisch „Lehaïm“) übernommen, der ursprünglich bedeutet, dass man beim Anstoßen den Tod überlistet, um das Lebendige zu feiern. In dieser Geschichte ist es kein Zufall, dass der Toast von der Großmutter der Kinder ausgesprochen wird, die vielleicht von allen das schlimmste Drama erlebt hat, das es gibt, nämlich den Verlust ihrer Tochter.


Hatten Sie sofort den neuen Titel „L'Attachement“ im Kopf?

Eine Zeit lang hieß der Film „Le bruit des enfants“ („Der Lärm der Kinder“) und griff damit die Idee der Vitalität auf, die Kinder dem Tod entgegensetzen. Doch dieser Titel schien mir zu kurz gegriffen, denn wenn auch die Kinder der Ursprung der Bindungen sind, die alle Protagonisten dieser Geschichte vereinen, geht das emotionale Engagement jedes einzelnen Erwachsenen über die Frage der elterlichen Verantwortung hinaus.
Der endgültige Titel drängte sich mir gegen Ende des Schreibens auf, als mir die Theorie von John Bowlby wieder in den Sinn kam, nach der die Bindung bei Neugeborenen in mehreren Etappen erfolgt und sich je nach Qualität, Häufigkeit und Stabilität der Pflege verfestigt: Das Kind bindet sich zuerst an denjenigen, der sich um es kümmert, es ist eine Art Überlebensinstinkt, der nicht unbedingt gleichbedeutend mit Liebe oder Zuneigung ist. Kurz gesagt: Not macht erfinderisch. Elliott und Alex hängen sich zuerst an ihre Nachbarin, einfach weil sie da ist. Die Zuneigung, die sie einander entgegenbringen, ist eine Folge der Bindung: Zunächst ist es eine Frage des Überlebens...



Woher kommt Sandras Zuneigung zu diesen Kindern?

Sandra folgt einer impulsiven Regung (in der Szene, in der sie plötzlich die Treppe hinuntergeht, um Alex vorzuschlagen, ihn ins Krankenhaus zu begleiten). Aber das ist nicht die einzige Situation, die sie emotional involviert: Elliotts Zuneigung verwirrt sie und ermöglicht die Begegnung. Elliott seinerseits konzentriert sich auf die Frau, die auf den ersten Blick am wenigsten geeignet ist, sich an ihn zu binden. Durch diese Wahl stellt er unbewusst sicher, seiner verstorbenen Mutter nicht untreu zu werden, denn keine Mutter – wenn man Zeit hatte, sie kennenzulernen, sie zu lieben und von ihr geliebt zu werden – ist ersetzbar. Insofern ist Sandra für ihn ein akzeptabler emotionaler Ersatz, der ihm hilft, diese Prüfung zu überstehen, ohne dass er sich schuldig fühlt, die Frau zu verraten, die ihn bis dahin großgezogen und vor
allem geliebt hat.



Mit Emilia, die von Vimala Pons verkörpert wird, greifen Sie auch das Thema Patchworkfamilie auf...

Im Gegensatz zu Sandra, die sich nie gewünscht hat, Mutter zu werden, setzt Emillia eine gewisse Energie ein, um sich in die Familie zu integrieren. Mit ihr wollte ich eine dieser Frauen darstellen, für die die Idee, eine Familie zu gründen, zwar schon immer feststand, die aber feststellt, dass dies nicht das Richtige für sie ist, zumindest nicht in diesem Moment ihres Lebens. Die Wahl ihrer rumänischen Herkunft verstärkt die Vorstellung, dass sie zusätzlich die Last einer auf den ersten Blick traditionelleren Familie tragen muss. Die Befreiung von familiären Vorgaben ist keine leichte Aufgabe... 



Der Film hinterfragt den Feminismus und seine verschiedenen Formen. War es Ihnen wichtig, hier ein Statement abzugeben?

Ich bin natürlich zwangsläufig Feministin, aber ich bin keine Aktivistin. Die Politik kommt ein bisschen in meinen Filmen vor, aber es ist nicht mein Hauptanliegen, Botschaften zu vermitteln, dennoch ist das Schreiben eine Form des Engagements... also ja, es war wichtig...
Die Szene am Esstisch, in der Sandras Mutter, Odette und ihre Töchter zusammenkommen, ist eine der wenigen komödiantischen Szenen des Films. Wenn wir Odette, die es genießt, ihre Töchter zu provozieren, sagen lassen, dass sie „genug von diesen Frauen hat, die klagen, wenn man ihnen auf den Hintern guckt“, dann liegt das auch daran, dass diese Mutter viel moderner ist, als sie denkt: Als ihr Mann sie verließ, zog sie ihre beiden Töchter allein auf und war vom Joch der Ehe befreit, so dass sie sich austoben konnte. Ihre Töchter wiederum haben ganz unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen: Die eine hat fünf Kinder bekommen und ist in ihrem Familienleben aufgegangen, während die andere beschlossen hat, völlig „frei“ zu bleiben. An ihrem Gesprächen merkt man, dass die Freiheit für verschiedene Generationen nicht in denselben Themen zu finden sind. Unsere Idee war es, durch verschiedene Blickwinkel zu zeigen, wie jede der Frauen mit dem Feminismus konfrontiert wird und ihn unterschiedlich für sich nutzt. Der Austausch zwischen Sandra und Emilia, in dem sie die Frage nach der Existenzberechtigung ihres feministischen Buchladens stellt, geht in die gleiche Richtung.


Foto:
Sandra (Valeria Bruni Tedeschi) liebt ihr Leben als unabhänige Frau und Buchhändlerin
© Alamode Film

Info:
Besetzung & Stab

Sandra VALERIA BRUNI TEDESCHI

Alex PIO MARMAÏ

Emilia VIMALA PONS

David RAPHAËL QUENARD

Elliott CESAR BOTTI

Mutter von Cécile CATHERINE MOUCHET

Mutter von Sandra MARIE-CHRISTINE BARRAULT

Regie CARINE TARDIEU

Drehbuch RAPHAËLE MOUSSAFIR, AGNÈS FEUVRE, CARINE TARDIEU

Frankreich 2024

Lauflänge: 105 Minuten

Abdruck aus dem Presseheft