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Kategorie: Film & Fernsehen
sonne

Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 28. August 2025, Teil 6


Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die letzte Frage im vorangegangen Interview mit der Regisseurin Mascha Schilinski lautete: „Was wünschen Sie sich für das Publikum, wenn sie Ihren Film sehen?“ Die Antwort: „Das, was der französische Filmemacher Robert Bresson mal so treffend formuliert hat: „I’d rather people feel a film before understanding it.“ Besser hätten wir nicht ausdrücken können, wie es uns beim Betrachten dieses Films ging.

 

Man sitzt, man schaut, man nimmt wahr, man erkennt, man fühlt, man erinnert, man spürt, man spürt nach, man ist entsetzt bei der Sterilisation der Magd, man bedauert das Mädchen Alma (Hanna Heckt), das auf einem Foto entdeckt, dass dasselbe Kleid, das sie trägt, dort ein anderes Mädchen anhat und erfährt, sie hatte eine Schwester, die starb, aber die genau so hieß, wie sie selbst, man ist ständig auf der Suche nach Zusammenhängen, aber nicht manisch, sondern in aller Ruhe läßt man sich auf diesen Bilderstrom ein, der ein Gefühl nach dem anderen hervorruft, den wir kennen das, was wir sehen, das alte Haus, das Leben auf dem Land, wie früher die Bauernhöfe noch die Einheit von Arbeit und Leben und das mit mindestens drei Generationen bedeuteten. Dann der Winter und der Sommer und vor allem, wenn im Frühling aus der dunklen Erde Grün wächst, von dem Wolf Biermann singt: „Das Grün bricht aus den Zweigen“, das Licht sich ändert, genauso wie der Herbst, wenn es nach einem Aufglühen der Blätter in Rot und Grün, sie einfach von den Bäumen fallen, es wieder dunkel, ja trostlos wird.

 

In diesem Film findet man ständig seine eigenen Erinnerungen an Kindheit, die, wenn man schon alt ist, noch auf eine Ursprünglichkeit der Natur und eine Einfachheit des Lebens blicken kann, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann, es sei denn, ein Film läßt in einer technisierten Welt die Welt von gestern aufscheinen. Es war wirklich eine ganz andere Welt und gleichzeitig gilt, dass es Nichts Neues unter der Sonne gibt. Großwerden und sich fragen, wer man ist, Kind, Vater, Mutter, Geschwister, früh mithelfen, hier mit den Tieren, einen Platz finden.

 

Um was es geht? Auch hier können wir die Regisseurin zitieren: „Bei der Drehbuchentwicklung war es quasi unmöglich, eine Handlung zu konstruieren. Wann immer wir den Versuch gemacht haben, etwas wie einen Plot zu definieren, war es, als hätte sich der Stoff dagegen zur Wehr gesetzt. Ich hatte viele Bilder im Kopf, ein exaktes Gefühl für bestimmte Atmosphären, die ich einfangen wollte.“ Das gelingt ihr. Statt einer Handlung kann man aber die Struktur definieren: ein einsam gelegener Hof in der Altmark, in dem über ein Jahrhundert verteilt vier Mädchen/junge Frauen ihre jeweilige Epoche repräsentieren: Alma (1910er), Erika (1940er), Angelika (1980er) und Nelly (2020er). Sie alle haben hier auf diesem Hof gelebt, übrigens derselbe Hof, auf dem die Regisseurin eigentlich mit ihrem Kollegen das Drehbuch verfassen wollte und stattdessen gleich den Hof zum eigenen Darsteller machte.

 

Man will immer verfolgen, wie sich die Einrichtung ändert, ob Wände durchgebrochen werden, etc. Aber das ist völlig unsinnig, denn darum geht es nicht. Und die erwähnten Epochen, die man an Kleidung und Einrichtung und anderen Äußerlichkeiten sofort erkennt, verschwimmen beim Betrachten und zwischendrinnen hat man den Eindruck, dass sich die Mädchen aus den unterschiedlichen Zeiten gerade vor den eigenen Augen im Haus treffen.

 

„Verschwimmen“ ist ein ein gutes Wort für das, was die Augen auf der Leinwand sehen. Denn der Film ist das Gegenteil von den heutigen scharf gestellten und immer extra angepriesenen superklaren Bildern der teuren Fernseher. Erst jetzt fragt man sich, warum das eigentlich so doll sein soll, alles superscharf zu sehen? Denn dann hat doch die eigene Phantasie überhaupt keinen Spielraum mehr. Es ist Programm dieses Films, daß Unschärfe Tiefe, Unklarheit, Unsicherheit ausdrücken kann, aber eben auch Geheimnis, Nebel, Stimmung, ja, schon wieder Gefühle bedeuten.

 

Natürlich ist Gewalt ein Thema, vor allem Gewalt gegen Frauen. Daß es möglich war, dass in einer Familie die eine Tochter als Bäuerin auf dem Hof lebt, die andere Tochter als Magd weitergegeben wird, ist mir fremd. Aber Gewalt bedeuten ja auch die beiden Weltkriege mit vielen versehrten Menschen, die im Film ihre Rollen finden. Überhaupt Körper, ja.

 

Aber das Unheimliche beim Betrachten ist dann, wie den Frauen, die die Frauen, die vor ihnen auf dem Hof lebten, überhaupt nicht kennen, doch deren Schicksal eingeschrieben ist. Daß psychosoziale Erfahrungen von Generationen weitergegeben werden können, hat auf der Berlinale 2009 Claudia Llosa mit ihrem Film LA TETA ASUSTADA eindrücklich dargestellt. MILCH DES LEIDS heißt die Krankheit in Peru, die durch die Muttermilch übertragen wird und an der ausschließlich Frauen leiden, die während des Terrors Mißhandelt oder vergewaltigt wurden. Was sie, ohne dies zu wollen, den Kindern über die Muttermilch weitergeben. Wer weiß, welche sinnlichen Erfahrungen noch auf uns bisher verschlossenen Wegen an die nächsten Generationen gelangen.


Foto:
©Verleih

Info:
Stab

Regie.. Mascha Schilinski
Drehbuch.. Mascha Schilinski, Louise Peter
Drehbuch Consulting.... Franz Rodenkirchen
Besetzung
Angelika... .Lena Urzendowsky
Lenka........ Laeni Geiseler
Nelly.......... Zoë Baier
Alma..........Hanna Heckt
Erika...........Lea Drinda 
Christa..... .Luise Heyer
Lia............ Greta Krämer
Fritz........   Filip Schnack
Gerti.......   Helena Lüer
Hedda...    Anastasia Cherepakha
Emma.....  Susanne Wuest
Max........  Gode Benedix
Trudi....    .Luzia Oppermann
Berta...    Bärbel Schwarz
Frieda..    Liane Düsterhöft
Fritz...      Martin Rother
Rainer...   Florian Geißelmann
Uwe.....    Konstantin Lindhorst
Irm.......  .Claudia Geisler-Bading
Albat...... Andreas Anke
Kaya...    Ninel Geiger
Hannes... Lucas Prisor