Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. September 2025, Teil 5
Edgar Reitz im Gespräch mit Robert Fischer
Berlin (Weltexpresso) – Edgar, du nennst deinen neuen Film LEIBNIZ, im Untertitel CHRONIK EINES VERSCHOLLENEN BILDES. Als „Chronik“ hattest du auch jeweils die verschiedenen Teile deiner HEIMAT-Saga bezeichnet. Ging es dort um episches, expandiertes Erzählen über lange Zeiträume, überrascht LEIBNIZ durch eine knappe Handlung, die innerhalb eines sehr begrenzten Zeitraums an einem einzigen Ort spielt. Wo siehst du dennoch Gemeinsamkeiten zwischen diesen auf den ersten Blick widersprüchlichen dramaturgischen Darstellungsformen?
Unter „Chronik“ verstehe ich nicht so sehr den Inhalt der Geschichte, als vielmehr die filmische Methode. Ich erzähle meine Geschichten seit HEIMAT, auch in LEIBNIZ, in Zeitsprüngen, die oft durch Zwischentitel klar markiert werden. Chroniken hat es schon immer gegeben, klassisch in Tagebuchform. Das übliche Spielfilmschema orientiert sich jedoch am Drama, also einer Tradition des Theaters. Das Drama mit seinen Gesetzen und Regeln des dramatischen Erzählens, mit Konflikten, Spannungsbögen und Fallhöhen, hat sich zur kommerziellen Regelform des Kinos entwickelt, die ausgehend von der Filmindustrie in den USA weltmarktbeherrschend wurde. Aber genau auf diesem Gebiet fühlte ich mich während meines Lebens als Filmemacher nie zuhause. Das Drama entspricht weder meiner Lebenserfahrung noch meinem erzählerischen Talent, das ich mit HEIMAT für mich entdeckte und weiterentwickeln konnte. Ich nannte meine Methode das chronikhafte Erzählen, weil dabei das Empfinden für den Lauf der Zeit im Vordergrund steht. Ich nenne alle meine Filme, seit mehr als 40 Jahren im Untertitel „Chronik“. Nach und nach wurde mir klar, dass ich diese Art des Erzählens auf alles anwenden kann, was mich interessierte, auch auf ein Thema wie Leibniz. Die filmische Chronik entsteht dadurch, dass man einer Entwicklung folgt und ihren Weg in erzählerischen Zeitschritten beschreibt. Die Übereinkunft mit den Zuschauern entsteht durch das gemeinsame Erlebnis der Zeit. Im Kino verwandelt sich die Filmzeit sozusagen in Lebenszeit und folgt insofern einem anderen Konsens als das Drama. Das sequentielle Sehen eines Films wird von meinen Zuschauern quasi auf das Leben angewendet.
Trotzdem handelt es sich ja hier, anders als bei der HEIMAT, um ein reduziertes Erzählen, um ein Kammerspiel. Du hättest nach dem Prinzip der Chronik ja auch Leibniz' gesamtes Leben erzählen können.
Das war auch der ursprüngliche Plan. Ich habe mich in die Biografie des Leibniz jahrelang eingearbeitet. Die ersten Drehbücher, die ich gemeinsam mit Gert Heidenreich geschrieben habe, waren große epische Erzählungen, die sich über lange Strecken des Lebens von Leibniz, aber auch über geografische Räume erstreckten, denn er ist in seinem Leben viel gereist. Keine dieser Versionen ist realisiert worden, und zwar ganz banal aus finanziellen Gründen. Unser erstes Drehbuch wurde auf 25 Millionen Euro kalkuliert, das war für mich als deutschen Autorenfilmer unerreichbar.
Und wie entstand die Idee, das Ganze schließlich auf diese eine Situation zu beschränken?
Wir hatten im Laufe von etwa fünf Jahren mehrere Fassungen für einen Kinofilm geschrieben, die sogar von der Filmförderungsanstalt unterstützt wurden und das Leben von Leibniz in immer neuen erzählerischen Ansätzen ausbreitet. Dabei bemühten wir uns von Fassung zu Fassung, den Ausstattungsaufwand zu begrenzen, indem wir versuchten, die Zahl der Figuren, der Kostüme und Schauplätze immer weiter zu reduzieren. Aber selbst die raffiniertesten filmischen Tricks führten uns nicht in den Bereich der in Deutschland finanzierbaren Dimensionen. Als kurz vor Ausbruch der Pandemie das letzte Drehbuch kalkuliert wurde und immer noch nicht realisierbar erschien, gab es eine Krise. Wir saßen erschöpft zusammen, mein Autor Gert Heidenreich, meine beiden Produzenten, meine Assistentin und ich, und kamen zu der traurigen Einsicht, dass wir das Projekt LEIBNIZ, nach all den Jahren der Suche begraben müssen. Im Hinausgehen meinte Produzent Ingo Fliess: „Besonders leid tut es mir um die erste Szene, um die Szene mit dem Maler.“
Da haben wir uns umgewendet und noch einmal an den Tisch gesetzt und überlegt, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, wenigstens diese schöne Szene zu retten und einen Film zu machen, der nur aus dieser einen Szene bestünde. Es gab in einer von unseren frühen Fassungen eine Anfangsszene, in der man miterlebt, wie Leibniz von einem höfischen Kunstmaler des frühen 17. Jahrhunderts porträtiert werden soll. Es war das Eröffnungsbild für den großen Kostümfilm, in dem wir beschrieben, wie Leibniz im Stil der damaligen Tradition in Öl gemalt werden soll. Während er also Modell steht, entwickelt sich ein Dialog zwischen ihm und dem Maler, und in diesem Dialog konfrontierten wir unseren Philosophen mit der Welt der Künste und sahen, wie er, der Universalgelehrte, zwar vieles von der Welt in Begriffe und Analysen fassen konnte, wie er aber gegenüber der Arbeitsweise der Kunst Verständnismängel zeigt. Das relativierte unseren Geisteshelden und gab uns Anlass, kritisch über seinen Wahrheitsbegriff nachzudenken. Nach mehreren Versuchen brachten wir endlich eine reduzierte, realistisch finanzierbare Fassung zustande, die aus nichts anderem als aus einem abendfüllenden Dialog zwischen dem Philosophen und dem Künstler bestand. Das neue Konzept war zunächst also eine Notlösung, durch die sich aber nebenbei eine wunderbare Lösung vieler dramaturgischen Probleme ergab. Auf einmal spürten wir den Tiefensog, den der neue Erzählansatz entwickelte: Statt in die Breite ging es nun auf den Grund aller Gründe. Und noch etwas erwies sich als Tugend: Ein Kammerspiel lenkt den Fokus auf die Gesichter der Darsteller. Was sich in ihnen ausdrückt und was die Schauspieler mit den Texten machten, das wurde für mich als Regisseur zum eigentlichen filmischen Abenteuer.
Wann wurde denn beschlossen, den Porträtmaler, wie er in dem ursprünglichen Drehbuch vorkam, durch zwei verschiedene Maler zu ersetzen?
Der ursprüngliche Maler war ein erfolgreicher Hofmaler seiner Zeit, womit schon eine Richtung vorgegeben war. Der Dialog zwischen Leibniz und ihm führt nach zehn Minuten zu ernsthaften Zweifeln, ob der Maler überhaupt in der Lage sei, einen so großen Geist mit seinen handwerklichen Mitteln zu erfassen. Die beiden geraten sich sehr schnell in die Haare und trennen sich. Damit wäre der Film über die historische Porträtsitzung schnell zu Ende gewesen. Die Fortsetzung brauchte einen weiteren Malversuch, der neue Erkenntnisse hervorbringt. Die Malerin aus den Niederlanden, die den Hofmaler ablöst, gestattete mir das Wechseln in eine moderne Dimension der Bildgestaltung. Sie formuliert schon in der ersten Sitzung einen Gedanken, mit dem sie Leibniz fasziniert. Sie sagt: „Ich male das Licht.“ Sie malt also nicht Figuren, Linien, Haare und Hauttöne wie die meisten Porträtmaler, sondern für sie ist das Licht der Gegenstand der Malerei. Und damit sind wir sofort in einem absolut filmischen Bereich.
Wir erleben, wie Aaltje van de Meer sich daran macht, Leibniz’ Porträt zu malen, und während das Bildnis bis zum Schluss dem Blick der Kamera und damit uns verborgen bleibt, entsteht dein eigenes, filmisches Leibniz-Porträt Szene für Szene vor unseren Augen. Etwa nach der Hälfte des Films sagt Aaltje: „Was ich nicht weiß, kann ich malen.“ Und Leibniz stutzt. In diesem Moment wird klar, wie sehr Aaltje sich Gedanken gemacht hat über das, was Kunst ist, und wie intensiv sie als Künstlerin versucht, Wahrheit zu finden. Aber man spürt auch, dass Leibniz sie spätestens ab diesem Augenblick nicht nur als Malerin, sondern als ebenbürtige geistige Partnerin respektiert und er von ihr sogar etwas lernen kann. Das macht für mich den Kern des Films aus. War eigentlich von Anfang an klar, aus dem zweiten Maler eine Frau zu machen?
Die Idee, dass der zweite Maler eine Frau sein könnte, war mir zunächst nicht geheuer, denn ich befürchtete, dass wir damit in das Gefilde der allgegenwärtigen Gender-Diskussion geraten. Wochenlang habe ich versucht, bei einer männlichen Figur zu bleiben – bis ich merkte, dass genau das falsch wäre. Die Kunst ist die Wahrheit des Körpers und die Philosophie die Wahrheit des Geistes, und beides zusammenzuführen, ist eine schöne Annäherung an die Weltsicht unseres Helden. Leibniz sucht die Verbindungen von Geist und Materie, den Ausgleich von Gegensätzen. Da erwies sich eine von der Malerinnung ihrer flämischen Heimatstadt abgewiesene Aaltje van de Meer als die interessantere Konstellation. Ihr zuliebe konnten wir noch Reste der Gender-Thematik hinnehmen, wenn Aaltje zunächst in Männerkleidern auftritt und sich erst später als Frau zu erkennen gibt.
Die Frage, was ist die Wahrheit in der Kunst oder was ist die Wahrheit im Bild, ist die zentrale Frage des Films ...
Wenn ich einen Film über Leibniz mache, dann steht über allem die Frage, ob das Bild auf der Leinwand mehr sein kann als nur eine Beschreibung. Kann ein Bild ein Stück vom Wesen des einmaligen, unverwechselbaren Menschen in sich tragen? Kann die Person im Abbild weiterleben? Der Begriff „Persona“ kommt von lateinisch „personare“, was so viel bedeutet wie „das was durch die Oberfläche hindurch tönt“. Gemeint ist die Maske des Schauspielers oder unsere Mimik, unser Verhalten, durch die unsere eigentliche unverwechselbare Individualität hindurch „hörbar“ wird. Unser äußeres Bild ist eine Maske, hinter der sich die Person verbirgt – oder äußert. Und die Beschreibung dieser Person, das Auftreten der Person Leibniz in meinem Film, erforderte diesen Akt des Personwerdens der Bilder. Und da zeigt die Malerin dem Filmemacher den Weg.
Von den sechs Figuren des Films sind drei historisch und drei fiktiv. Bei den historischen Personen handelt es sich um Leibniz (Edgar Selge), die Kurfürstin Sophie von Hannover (Barbara Sukowa) sowie deren Tochter Charlotte, Königin von Preußen (Antonia Bill). Die drei fiktiven Figuren sind Hofmaler Delalandre (Lars Eidinger), Aaltje van de Meer (Aenne Schwarz) und Liebfried Cantor, Leibniz’ Assistent (Michael Kranz). Über Cantor erfährt Aaltje – und der Zuschauer – vieles über Leibniz’ Aktivitäten und seine Persönlichkeit.
Der historische Leibniz hatte immer einen Amanuensis, so nannte man jemanden, der einem zur Hand ging, also einen Assistenten, Diener oder Schreiber. Leibniz hatte immer solche Figuren an seiner Seite, von denen aber keiner uns als Vorbild taugte. Ich hatte spontan ein Vorbild im Kopf, und das kam ganz woanders her: In der ZWEITEN HEIMAT hat meine Hauptfigur Hermann eine Zeit lang einen Assistenten, der seinem Chef in naiver Verehrung zugeneigt ist und unglaublich beflissen alle seine Wünsche zu erfüllen trachtet. Ich habe also eine Figur aus der ZWEITEN HEIMAT in diesen Film transplantiert. Zu einem anderen Teil basiert diese Figur auf Studien, die mein Co-Autor Gert Heidenreich gemacht hat. Ich möchte hinzufügen: Bei diesem Drehbuch war die Arbeit von Gert besonders umfassend, denn er hat die Dialoge weitgehend allein geschrieben und eine Sprache dafür gefunden die uns die Figuren in eine fiktive Historie entrückt und gleichzeitig fremd und glaubwürdig macht. Damit ist etwas in den Film gekommen, das - ähnlich wie die Kostüme - das historische Gefühl herstellt, andererseits aber einen zusätzlichen Schwierigkeitsgrad bei der Realisation mit sich brachte: Meine Schauspieler, an erster Stelle Edgar Selge, stießen sich zunächst an den Dialogen und klagten: Das sei Literatur und kaum spielbar. Wir haben schließlich Spaß daran gefunden, die Texte spielen und sprechen zu lassen und dahin zu gelangen, dass die historisierende, literarische Sprache ein ganz natürlicher Teil der Figuren und ihrer Sprechweise wurde.
Wie viel vom Dialog beruht denn auf verbürgten Überlieferungen durch Leibniz’ Schriften oder Briefen und wie viel wurde so, wie du es gerade beschrieben hast, von Gert Heidenreich erfunden?
Im Laufe der jahrelangen Arbeit an dem Projekt sind wir Leibniz-Experten geworden. Gert Heidenreich hat sich im Laufe dieser Jahre in die Zeitgeschichte und die Gedankenwelt eingearbeitet und eine Leibniz-Bibliothek angelegt, aus der er zitieren konnte. Alles, was an Buchveröffentlichungen, Sekundärliteratur und an Kommentaren zu Leibniz verfügbar war, haben wir gesammelt und unsere Freunde jahrelang mit Leibniz-Zitaten traktiert. Gert hat zahllose Auszüge aus den Schriften gemacht, aus denen Fragmente in seine Dialoge gewandert sind. Was mir dabei gefiel ist, dass er den komplizierten Satzbau nicht übernahm und trotzdem die Formulierungen und die Begriffswahl von Leibniz bewahren konnte. Für die erfundenen Figuren wie Cantor und Aaltje gab es natürlich gar keine Vorlagen zu ihrer Sprache. Die Freundschaft von Leibniz und Charlotte, also der Königin von Preußen, ist belegt; aber der Briefwechsel mit ihr, der umfangreich gewesen sein soll, wurde nach Charlottes Tod von ihrem eifersüchtigem Ehemann Friedrich verbrannt. Ob sein Motiv begründete sexuelle oder intellektuelle Eifersucht war, das sei dahingestellt, denn es war ein törichter Akt der Zerstörung. Aber es gibt den Briefwechsel zwischen Charlotte und ihrer Mutter. Da sind viele Hinweise auf die Beziehung von Leibniz zu Charlotte überliefert. Daraus konnten wir einiges übernehmen, zum Beispiel, dass Charlotte ihrer Mutter in klaren Worten bekennt, wie sehr sie Leibniz verehrt und liebt.
Dennoch bleibt das Verhältnis zwischen Charlotte und Leibniz im Film etwas rätselhaft. Ist das der große Respekt einer Schülerin vor ihrem Lehrer, ist es Schwärmerei? Die Art, wie Charlotte über Leibniz redet, weist auch auf eine erotische Anziehung oder ein – wenn auch vermutlich nur platonisches – Liebesverhältnis hin ...
Wir wollten uns natürlich keinen Spekulationen hingeben. Verbürgt ist, dass Charlotte eine gebildete, hochintelligente Person war, eine der wenigen Frauen ihrer Zeit, die eine begnadete Mathematikerin war, die wirklich die Infinitesimalrechnung, die Leibniz erfunden hat, verstand und beherrschte. Und die beiden gingen, das ist überliefert, oft stundenlang im Park spazieren und unterhielten sich über die Berechnung von Determinanten mit Cofaktoren. Man kann also davon ausgehen, dass Charlotte in ihrer Rolle als Königin intellektuell unterfordert war und sich in ihrem Leben langweilte. Die Hofdamen, mit denen sie sich aus Standesgründen umgeben musste, waren ungebildete, modeverrückte Adelsfräulein. Und Charlotte litt unter der intellektuellen Armut des höfischen Lebens in Berlin, das beklagte sie oft in ihren Briefen an ihre Mutter, Kurfürstin Sophie von Hannover. Von daher war ihre Sehnsucht nach Leibniz auch einfach ein Verlangen nach der persönlichen Gegenwart eines intellektuellen Partners. Im Gespräch mit ihm muss sie sich ungeheuer erlöst im Sinne eines Lebendigseins besonderer Art gefühlt haben. Und aus dieser Kombination seiner belebenden Gegenwart und der Sehnsucht nach Erfüllung im Geiste hat sich in Charlotte etwas an Gefühlen zusammengefunden, das man schon beinahe eine große Liebe nennen kann.
Zu der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Leibniz und Charlotte taugt vielleicht der Satz, den Leibniz im Film zwar zu Aaltje sagt, den aber auch Charlotte sicher oft von ihm hörte: „Wollen wir ein wenig miteinander denken?“
Er will vermutlich wirklich nur mit ihr denken, aber der erotische Unterton ist da, es klingt ja fast wie ein unsittliches Angebot. Oder umgekehrt: Der Akt des gemeinsamen Denkens bekommt plötzlich eine erotische Komponente. Und die gab es tatsächlich. Leibniz hat immer wieder sinngemäß gesagt, das Denken sei die größte Freude, die es gibt. Sich am Denken eines anderen zu beteiligen, hieße demnach, in die höchste Form gemeinsamer Glückseligkeit einzutauchen. Meine Hoffnung bei diesem Film ist, dass sich mein Publikum mit dieser Glückseligkeit ein bisschen anstecken lässt und dass der Kinobesuch so etwas wird wie die Entdeckung des erotischen Denkvergnügens.
Man kann nicht unbedingt sagen, dass Edgar Selge den Abbildungen von Leibniz auf historischen Bildern sehr ähnelt ...
Ich habe Edgar Selge nicht besetzt, weil er mich äußerlich an Leibniz erinnert hätte, sondern wegen seiner Fähigkeit, Gedanken auszudrücken. Ich war zum Beispiel tief beeindruckt von seiner Rezitation von Rilkes „Duineser Elegien“ an einem Abend, den er gemeinsam mit seiner Frau Franziska Walser in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gestaltete. Die Duineser Elegien gelten in der lyrischen Literatur als ein besonders rätselhaftes und schwer deutbares Werk. Aber Edgar Selge hat diese Rilke-Texte so vorgetragen, dass ich jedes Wort verstand und sicher war, endlich Rilkes Gedanken gefolgt zu sein. Ich dachte, ein Schauspieler, der Rilke verständlich machen kann, wird mir auch einen Leibniz spielen können, den man endlich versteht. Auch für die Besetzung der anderen Rollen waren Gründe ausschlaggebend, die nicht direkt mit unserem Projekt zusammenhingen. Antonia Bill spielte in DIE ANDERE HEIMAT das Jettchen, das arme Bauernmädchen aus dem Nachbardorf, das den Bruder des Protagonisten heiratet und nach Brasilien auswandert. Für sie war eine Königin gewiss nichts anderes als ein Märchen. Antonia ist für mich ein Bauernkind, das Königin wird. Der Gedanke gefiel mir, weil die Märchenkönigin der Kindheit mitsamt ihrer Sehnsucht die einzige Art von Königin ist, die ich kenne. Das war für mich ein schöner Gedanke. Oder Barbara Sukowa: Sie hat für Margarethe von Trotta immer wieder große historische Frauenfiguren gespielt, und wenn Barbara auftritt, dann ist von Rosa Luxemburg bis Hildegard von Bingen alles präsent. Ihre Sophie vereint all diese großen Frauengestalten in sich. Auch Lars Eidinger ist ein brillanter, hochintelligenter Schauspieler. Bei ihm interessierte mich die Wandlungsfähigkeit, die man bei ihm immer wieder beobachten kann. Und ich wusste, der kann diese künstliche Hofmaler-Figur Delalandre zum Schillern bringen. Michael Kranz, der den Amanuensis Liebfried Cantor spielt, wurde mir von meinem Co-Regisseur empfohlen, der ihn von der Filmhochschule kannte, denn Kranz ist nicht nur Schauspieler, sondern besuchte auch die Dokumentarfilmklasse der Münchener HFF.
Es fehlt noch jemand, nämlich Aenne Schwarz.
Ja, natürlich. Ich hatte zunächst in den Niederlanden gesucht, weil ich dachte, eine niederländische Malerin muss mit niederländischem Akzent spielen. Ihre Herkunft sollte auch an der Sprache erkennbar sein. Ich fand eine Schauspielerin aus Amsterdam, die ich beinahe engagiert hätte, aber sie war für die Zeit, in der wir drehen wollten, nicht frei. Dann fiel mir Aenne Schwarz ein, die ich als Ehefrau von Stefan Zweig in dem Film VOR DER MORGENRÖTE von Maria Schrader gesehen hatte. Sie war mir dort aufgefallen durch ihr Gesicht, das „die Leinwand frisst“, wie man sagt. Wenn ich sie mit einem musikalischen Begriff beschreiben sollte, würde ich sagen, sie ist eine Künstlerin der unbetonten Noten. Sie hat die unglaubliche Fähigkeit, aus dem Hintergrund zu wirken, also da, wo man sie nicht erwartet. Da, wo kein Akzent ist, strahlt sie und kommt aus sich heraus. Und mir gefiel der Gedanke, dass Aaltje nicht von vornherein auf der Gewinnerlinie daherkommt, sondern sich mit der Zeit entfaltet. Sie tritt nicht auf als jemand, der sagt, hier bin ich, kämpfe und gewinne den Kampf, sondern sie kommt erst einmal ganz bescheiden und auch ein bisschen ängstlich daher. Aber in dem Moment, wo es um das einmalig-persönliche geht, leuchtet sie. Es war für mich ein großer Lernprozess, mit Aenne Schwarz zu arbeiten. Der Weg zur Figur war nicht deduktiv, also vom Gedanken zur Ausführung, sondern das Umgekehrte. Im Spiel war sie plötzlich da. Es gibt Schauspieler, die haben eine intuitive Fähigkeit, einen Gedanken zu erfassen, ohne dass man weiß wie. Aenne verwandelte die Aaltje, also eine fiktive Figur, in quasi-historische Realität, der man sogar die niederländische Herkunft glaubt.
Kommen wir zu einer weiteren großen Herausforderung, nämlich die filmische Auflösung dieser intimen Geschichte. Wie hast du Matthias Grunsky, deinen Kameramann, gefunden und wie habt ihr das visuelle Konzept des Films entwickelt?
Ich hatte bei dieser Produktion einen großen Verlust zu verarbeiten. Ich meine Gernot Roll, der bei fast allen meinen Filmen mein Kameramann und wichtigster Partner gewesen ist. Nach dem Tod von Gernot hatte ich das Gefühl, nie mehr einen großen Film drehen zu können. Über 30 Jahre lang waren wir eine eingeschworene Einheit, und jetzt gab es ihn nicht mehr. Mir war klar, jeder neue Kameramann, egal wen ich finden würde, würde mich vor vollkommen ungewohnte Arbeitsbedingungen stellen. Wir haben in Gedanken mit verschiedenen Möglichkeiten gespielt und Dutzende von Filmen angeschaut, um herauszufinden, wer zu mir passen würde. Aber oft ist ja die Bildsprache der Kameraleute erst in der Zusammenarbeit mit bestimmten Regisseuren bemerkenswert und nicht immer übertragbar. Selbst Gernot Rolls Stil war oft sehr verschieden, je nach den Regisseuren, mit denen er arbeitete. Matthias Grunsky kannte ich vorher überhaupt nicht. Er wurde mir von meinem Produzenten Ingo Fliess empfohlen. Als wir uns das erste Mal trafen und ein bisschen miteinander redeten, war das erste, das mir auffiel, seine unglaubliche Fähigkeit, sich zu begeistern. Vom ersten Moment an hat Matthias sich vom Stoff und der Geschichte vollkommen mitreißen lassen. Wir haben dann gemeinsam experimentiert. Eine Zeit lang wollten wir zum Beispiel versuchen, mit einer Lochbildkamera zu filmen, denn das hätte der Aaltje und ihrer Suche nach den Licht-Bildern entsprochen. Damit befanden wir uns auf komplett unbekanntem Gelände, denn niemand hatte bislang mit einer Film-Kamera ohne Objektiv gearbeitet. Wir experimentierten wochenlang und haben viel über das Malen mit Licht gelernt. Das Besondere an der Lochbildkamera ist, dass sie kein Tiefenschärfenproblem hat. Ein Lochbild ist überall gleich scharf oder gleich unscharf. Mit unserer Szenenbildnerin Renate Schmaderer stellten wir Versuche mit den Raum-Perspektiven an und filmten mit einer Sondenkamera Fahrten und Lichtbewegungen im Modell. Unser großes Vorbild kam aus der Malerei des 17. Jahrhunderts. Uns faszinierten Maler wie Caravaggio, der im Grunde das Filmlicht erfunden hat. Wenn man CaravaggioBilder sieht, denkt man, das ist beleuchtet wie ein Kinofilm. Wir haben angefangen, uns mit der Farbe Schwarz zu beschäftigen. Die barocke Malerei aus der Caravaggio-Schule hat das Bild schwarz grundiert, statt wie bisher weiß. Die Farbe Weiß, also die Farbe des Lichtes, wird auf den schwarzen Grund aufgetragen. Wir haben uns gefragt, wie es wäre, wenn unser Studio ein schwarzer Raum wäre und wir nur mit dem Licht modellieren. In der ersten Einstellung kommt Charlotte aus einem nicht definierbaren schwarzen Raum, und nur das Licht konturiert sie. Es gibt im Laufe des Films immer wieder Situationen, wo wir auf die schwarzen Bildanteile gebaut haben. Wir haben uns viele Kamerabewegungen ausgedacht, die durch helle und schwarze Passagen führen. Matthias Grunsky hat sich ein kleines Programm gebastelt, mit dem er den Grundriss unseres Schauplatzes räumlich darstellen und die geplanten Wege der Personen nachbilden konnte. Nie zuvor habe ich mit einem Kameramann vor Drehbeginn so viel experimentiert.
Wie muss man sich die Situation beim Dreh im Studio vorstellen?
Wir bauten die komplette Szenerie in einem Münchener Studio. Ich hatte außerhalb der Dekoration meine sogenannte Combo, also die Regiekabine mit Kontrollmonitor und Sprechfunkverbindung zu meinem Team. Dieser Arbeitsraum lag hinter der Tapetentür, die im Film in die „schwarze Kammer“ führt. Der geheimnisvolle schwarze Raum war während der sechs Wochen Drehzeit mein „Denkzentrum“. Dort saß ich täglich viele Stunden in völliger Dunkelheit vor einem Bildschirm und konnte das Kamerabild, den Lichtaufbau und die Proben beobachten. Mit einem Mikrofon konnte ich wahlweise mit dem Kameramann, den Schauspielern oder meinem Assistenten kommunizieren. Dem Kameramann gab ich meine Anweisungen über seine Kopfhörer. Ich konnte ihm also sagen, geh näher ran, nimm das Ding da links noch mit ins Bild und so weiter. Mein Alter spielte bei den Arbeitsabläufen natürlich eine Rolle, denn mit 92 Jahren kann man nicht mehr wie früher täglich zehn Stunden neben der Kamera stehen und die Schauspieler mit Blickkontakt führen. Ich musste also irgendwo sitzen; wenn man aber irgendwo sitzt, bewegt sich das Geschehen leicht von einem weg. Eine große Hilfe war deswegen mein eigens aus Altersgründen engagierter Co-Regisseur Anatol Schuster. Anatol ist ein junger Filmemacher, der schon drei Spielfilme geschaffen hat und deswegen in engster Verbindung mit mir in der Lage war, an sämtlichen meiner künstlerischen Überlegungen teilzunehmen. Anatol war derjenige, der alle Abläufe und Drehtage koordiniert hat. Die Proben konnten wir immer aus doppelten Perspektiven verfolgen: Gleichzeitig am Monitor und stehend neben der Kamera. Vielleicht hätte ich den Film nicht körperlich durchgestanden, wenn ich Anatol nicht an der Seite gehabt hätte.
Welche Zuschauer wünscht du dir für diesen Film?
Zuschauer, die sind wie wir, die Freude am Denken haben. Und ich bin sicher, dass es davon viel mehr gibt, als die Branche glaubt. In der Filmkunst sehe ich nach wie vor den einzigen großen, gültigen künstlerischen Ausdruck unserer Zeit. Die Filmbranche ahnt zur Zeit meines Erachtens nicht mehr, welches Potenzial das Kino im Bewusstsein der Welt entfalten kann. Ich vertrete unermüdlich und trotz seiner zyklischen Krisen die Meinung, dass das Kino eigentlich noch in seinem Pionier-Stadium steckt und neu erfunden werden muss. Ich wünsche mir für meinen Film ein Publikum, das sich der Freude hingibt, im Kino die Wahrheit hinter den Bildern zu entdecken.
Foto:
©Verleih
Info:
LEIBNIZ - CHRONIK EINES VERSCHOLLENEN BILDES
Ein Film von Edgar Reitz
Deutschland 2025
Kinostart: 18. September 2025
Laufzeit: 102 Minuten
FSK: ab 6 Jahren
Stab
Regie Edgar Reitz
Drehbuch Gert Heidenreich, Edgar Reitz
Besetzung
Edgar Selge Gottfried Wilhelm Leibniz
Aenne Schwarz Aaltje van de Meer
Lars Eidinger Hofmaler Delalandre
Barbara Sukowa Fürstin Sophie von Hannover
Antonia Bill Königin Sophie Charlotte von Preußen
Michael Kranz Liebfried Cantor
Abdruck aus dem Presseheft