
Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Wie hat sich die Idee zu Ihrem Film entwickelt? Die Idee zu diesem Film ist bei den Dreharbeiten von Roter Himmel entstanden, als wir die Szene am Tisch draußen gedreht haben, mit dem Gedicht von Heinrich Heine. Es lag da irgendwie eine Leichtigkeit auf diesem Tag, aber auch ein Druck, weil da viel passiert, während die Paula das Gedicht vorträgt. Um die Schauspieler ein bisschen aufzulockern, habe ich etwas über Heine und Heinrich von Kleist erzählt, die da im Dialog auftauchen.
Ich habe von Kleists Brief erzählt, in dem er beschreibt, wie er in Würzburg übernachtet und keinen Schlaf findet. Es ist heiß, sein Körper dampft, er läuft durch die Straßen und will aus dem Stadttor hinaus.
Unter dem Stadttor schaut er nach oben und sieht, dass das, was dieses große Steintor zusammenhält, lauter Steine sind, die fallen wollen und sich im Fallen gegenseitig stützen. Dass also im Moment des Fallens, des Zusammenbruchs, überhaupt erst die Gewölbe entstehen, in denen wir Menschen leben können. Und Kleist sagt, er habe in diesem Moment einen ungeheuren Trost verspürt.
Diese Geschichte habe ich den Schauspielern erzählt, und wir sprachen darüber, dass das ein schönes Bild für das Kino ist. Dass Kino oder überhaupt Fiktion davon handelt, dass etwas im Zusammenfallen ist und sich im Zusammenbruch Gewölbe, Strukturen, Gruppen bilden. Und daraus ist eigentlich die Idee entstanden, an diesem Tisch: Da ist eine junge Frau, die trifft auf eine zerstörte Familie, die sich durch sie wieder zusammensetzt. Das war die erste Metapher.
Am Anfang Ihres Films sehen wir Paula Beer, die die Laura spielt, auf einer Brücke stehen und hinunterschauen. Die Szene wird nicht erklärt.
Wir wissen am Anfang gar nichts. Wir haben Zeichen und versuchen, diese Zeichen zu lesen. Wir hören eine Stadt, die sehr laut ist, es rast Verkehr vorbei, aus den Autos dringen Musikfetzen.
Wir sehen eine junge Frau auf dieser hässlichen Brücke in der Nähe der Autobahn.
Das ist fast ein romantisches Bild, wenn man da steht und ins Wasser schaut, die Paula musste dabei an Undine denken. Und diese junge Frau da redet nicht, sie hat keine bestimmte Geschwindigkeit, sie ist milie. Denn das, was sich da abspielt, das Warten, das Gedeck, das da nicht hingehört, der Sohn, der den Teller hochwirft, das Essen, die Blicke, das alles geschieht nur innerhalb des Dreiecks dieser Familie, niemals aus Lauras Perspektive. Die Laura ist hier das Objekt der Familie. DIE STRASSE Die Straße zwischen Werkstatt und Haus, mit diesen beiden Fahrspuren, markiert sowohl die Distanz als auch die Verbindung zwischen den beiden Lebenswelten. Als wir das Haus mit dieser Straße davor entdeckt haben, war ich total begeistert. Diese Straße hat nur zwei asphaltierte Spuren, und durch diese beiden Strahlen bekommt man eine wunderbare Tiefe im Bild. Diese Straße war dann auch für die Fahrradszenen später wichtig, weil jeder auf seiner eigenen Spur fährt, und sie war für den Anfang wichtig, wenn die jungen Leute irgendwann aus der Stadt heraus sind und auf diesen besseren Feldweg kommen. Das heißt immer schon, wir kommen in Gegenden, wo das Navigationssystem wahrscheinlich versagt, wo einfach für sich. Das liebe ich im Kino, wenn Filme erst einmal für sich sind und uns als Zuschauer nicht brauchen.
Wir sind es, die uns dem Bild nähern müssen, wir müssen anfangen, es zu sehen und zu begreifen, zu lesen, zu erspüren. Dann geht die junge Fau hinunter zum Wasser und zum ersten Mal nimmt sie jetzt Geräusche wahr, Bäume, Blätter im Wind, ein Paddelschlag im Wasser. Sie schaut auf und sieht einen Standup-Paddler, ein Bild, das an das Gemälde von Arnold Böcklin erinnert, „Die Toteninsel“. Da gibt es diesen aufrechten Fährmann, der die Toten zur Toteninsel bringt. Das ist das erste, was sie wahrnimmt, der Tod.
Dieses Gefühl, dass die Laura abgetrennt ist von der Welt, zieht sich durch den ganzen Anfang, in ihrem Apartment, auf der Fahrt im Auto, am Hafen.
Die Laura ist nicht richtig vorhanden in dieser Welt. Sie sitzt in einem Auto, die anderen haben Musik und Gespräche und Ziele, aber sie kann an diesen Gesprächen nicht teilnehmen.
Und dann fahren sie an einem Haus vorbei, und der Blick einer völlig fremden, schwarz gekleideten Frau, die einen Zaun streicht, fixiert sie.
Nicht die anderen, der Blick fixiert nur sie alleine. Es findet ein Kontakt statt. Sie wird im Grunde auserwählt, wie im Märchen. Diese Frau mit dem Pinsel in der Hand holt sich eine Prinzessin ins Hexenhaus.
Es gibt noch eine zweite Begegnung, bevor Laura den Unfall hat.
Das Wochenende dieser jungen Leute könnte richtig schön sein. Aber Laura kann nicht mehr teilnehmen an dieser Welt. Wenn der Produzent zu ihrem Freund sagt: „Fahr‘ die Dramaqueen zum Bahnhof, und später machen wir hier weiter dann weiter“ – in diesem Moment ist sie im Grunde genommen nicht mehr vorhanden.
Das war mir wichtig, dass man das mitbekommt, wie schnell man verloren gehen kann. Und wenn sie dann noch ein zweites Mal an diesem Haus vorbeikommen, hat man das Gefühl, die Betty würde den Wagen jetzt förmlich anhalten. Beim ersten Mal war es ein Vorbeifahren, jetzt ist es eine Konfrontation. Sie schauen sich an. Und in diesem Moment ist zwischen den beiden so etwas wie ein Vertrag geschlossen worden.
Der Unfall, der Laura mit Betty zusammenbringt, ist nicht zu sehen.
Man hört den Unfall nur. Die Straße leer ist, man hört die Vögel, die Natur ist aufgeschreckt.
Und dann liegt das rote Cabriolet dort. Das ist auch so etwas wie ein Märchenzeichen, dieses rote Cabrio der Filmgeschichte, so wie der verlorene Schuh von Laura nach dem Unfall. Das rote Cabriolet kommt auch aus der Welt der Märchen. Aber der Prinz hier ist anders, der Prinz ist tot.
Was der Unfall mit Laura macht, wird nur angedeutet. Einmal sagt sie: Ich müsste traurig sein, aber ich bin es nicht. Das ist ein Motiv, das es immer wieder in Ihren Filmen gibt, die Abspaltung.
Ja, sie kann nur überleben, wenn sie das komplett abspaltet. Das macht sie kalt gegenüber ihrer Vergangenheit. Sie wird im Grunde genommen in diesem Film mit dem Unfall neu geboren. Sie wird von Betty nach Hause gebracht, man bringt sie zu Bett, man erzählt ihr eine Geschichte, man zeigt ihr, wie ein Zaun gestrichen wird, man erklärt ihr Kräuter und weckt ihre Sinne, sie bekommt ihr erstes Fahrrad ... Ganz elementare Dinge. Im Grunde genommen erlebt sie in wenigen Tagen noch einmal eine ganze Biografie, aber eine, die nichts mit ihrem Leben zuvor zu tun hat. Als ob sie einen kompletten Neustart erlebt.
Vater und Sohn tauchen erst relativ spät im Film auf. Erst erzählt Betty von ihnen, dann sehen wir sie in der Werkstatt, dann folgen sie der Einladung zum Essen, ohne zu wissen, was sie erwartet.
Die beiden Männer essen vor der Werkstatt eine serbische Bohnensuppe, trinken ihr Bier, da kommen Kunden, da findet offensichtlich irgendetwas nicht ganz Legales statt. Im Hintergrund stehen Rudimente der DDR herum, ein alter Traktor, mit den ganzen Schrottautos dort hat das auch etwas Amerikanisches.
Sie kommen mit den Reparaturen offenbar nicht mehr hinterher, vielleicht braucht das auch keiner mehr, weil im Kapitalismus das, was kaputt ist, weggeschmissen wird.
Die beiden da können alles reparieren. Und reparieren bedeutet einen Gegenstand zu begreifen zu verstehen, was daran kaputt ist. Sie wollen auch begreifen, was an dieser Familie kaputt ist. Aber das schaffen sie nicht. Sie kriegen das nicht repariert, was hier passiert ist. Und die leben in einem Provisorium, wie in einem Trailerpark, in zwei Zimmern neben der Werkstatt. Man sieht das, wenn die abends nach dem Essen nach Hause kommen, der Sohn geht in sein Kabuff, da steht noch ein Wäscheständer davor, und der Vater raucht eine Zigarette im Abendlicht. Und dieses Provisorium zu zeigen, reichen ein Vorhang und ein Wäscheständer. Das, was wir nicht sehen, ist das Kino, das ist Vorstellung, Imagination. So wie wir auch das Zimmer der toten Tochter im Film nie sehen. Aber wir vermuten und ahnen, und das ist viel reicher.
Die Ankunft der Männer am Haus der Familie sehen wir aus Lauras Perspektive.
Das ist in diesem Film immer so: Wir sehen Menschen in der Objektiven, Vater und Sohn am Tisch vor der Werkstatt, und danach sehen wir sie mit dem Blick eines anderen. Jetzt sehen wir mit Lauras Blick, wie sie aus dem Auto steigen, wie sie den gestrichenen Zaun begutachten. Und das macht die beiden schon zu anderen Figuren. Das hatte ich als Grundprinzip mit dem Hans Fromm so besprochen. Es gibt immer einen objektiven und einen subjektiven Blick, weil eine Familie aus objektiven Wahrheiten und subjektiven Empfindungen besteht. Und das muss in einem Rhythmus sein. Jetzt, wenn alle vier zum ersten Mal zusammenkommen, beginnen wir mit Lauras Blick.
Aber danach sehen wir sie nicht beim Kochen, und es gibt auch keine Einstellung aus der Küche auf die wartende Familie. Denn das, was sich da abspielt, das Warten, das Gedeck, das da nicht hingehört, der Sohn, der den Teller hochwirft, das Essen, die Blicke, das alles geschieht nur innerhalb des Dreiecks dieser Familie, niemals aus Lauras Perspektive. Die Laura ist hier das Objekt der Familie.
Die Straße zwischen Werkstatt und Haus, mit diesen beiden Fahrspuren, markiert sowohl die Distanz als auch die Verbindung zwischen den beiden Lebenswelten.
Als wir das Haus mit dieser Straße davor entdeckt haben, war ich total begeistert. Diese Straße hat nur zwei asphaltierte Spuren, und durch diese beiden Strahlen bekommt man eine wunderbare Tiefe im Bild. Diese Straße war dann auch für die Fahrradszenen später wichtig, weil jeder auf seiner eigenen Spur fährt, und sie war für den Anfang wichtig, wenn die jungen Leute irgendwann aus der Stadt heraus sind und auf diesen besseren Feldweg kommen.
Das heißt immer schon, wir kommen in Gegenden, wo das Navigationssystem wahrscheinlich versagt, wo Märchen möglich sind. Wir kommen vom Weg ab. Und wenn man vom Weg abkommt, beginnt die Geschichte. Unsere Drehorte dort lagen ja wirklich nah beieinander, wir haben alles da gefunden. Ich finde es wichtig, dass wir nicht einfach irgendwelche Orte zusammenkleistern. Wir müssen die Welt, die da ist, ins Bild setzen und ihren Zauber finden, nicht die Welt von außen mit Geld verzaubern. Weil die Drehorte so nah beieinander waren und weil wir chronologisch drehen, konnten wir alles nutzen, was da ist, und wir konnten auch alles benutzen, was die Natur gemacht hat: Den Sommer, die Winde, den Wetterwechsel im Übergang zum Herbst oder diesen wunderbaren Himmel vor dem Regen.
Vor allem Max, der Sohn, hat Schwierigleiten, sich mit Lauras Anwesenheit abzufinden.
Es gibt die Szene, wo Max zum Haus kommt, und wir merken, der will wissen, was hier eigentlich los ist. Wer ist diese junge Frau? Die arbeitet da im Kräutergarten, sie bietet ihm Kaffee an, als ob ihr diese Welt dort schon gehören würde. Das macht ihn völlig rasend. Im Hintergrund wird das Klavier gestimmt, und wir erfahren, dass sie eigentlich Klavierstudentin ist. Und dann sagt sie noch: „Ich glaube, deine Eltern wollen mal ein bisschen für sich sein ...“ In diesem Moment spüren wir, dass die Laura in dieser falschen Existenz angekommen ist. Das spürt auch der Max, und dagegen wehrt er sich. Und gleichzeitig merkt er, dass er die trotz allem gerne mag. Das ist auch etwas, was ich im Kino mag. Der Sohn spürt die Lüge, er weiß, dass diese Lüge zur Katastrophe führt. Aber er kann die Lüge nicht zerstören, weil er seinen Eltern diese paar Tage des Glücks nicht zerstören will.
Eine der schönsten Szenen im Film ist die, wenn Max und Laura plötzlich gleichzeitig anfangen zu lachen.
Sie sitzen zusammen draußen am Tisch vor der Werkstatt und sie hören den Song von Frankie Valli ... Das ist ein Moment, wo die Schauspieler auch nicht mehr weiter wissen. Sie sind in der Situation ihrer Figuren, sie wissen, was da passiert, aber die Figur reicht nicht, um fünf Minuten dabei gefilmt zu werden, wie man zusammen Musik hört. Das kann man eigentlich nicht spielen. Und das fällt den beiden im selben Moment auf, sie gucken sich an und fangen an zu lachen. In diesem Moment sind sie aber nicht mehr Laura und Max, sondern sie sind Paula und Enno. Und dieses Lachen ist genau das richtige Lachen für die Szene, denn beide sind in diesem Moment bei sich. Er ist nicht mehr der Sohn, der sein Leben verpasst, und sie ist nicht mehr die Ersatztochter. Dieser Moment war mir wichtig, die so lange zu filmen, bis sie von sich aus lachen.
Der Verlust eines Kindes ist ein Motiv, was es schon in Gespenster und Wolfsburg gibt.
Man kann über die verlorenen Kinder erzählen oder über die Eltern, die ein Kind verloren haben. Das sind die beiden Geschichten, Hänsel und Gretel und Das Totenhemdchen bei den Gebrüdern Grimm. Diese beiden Sachen haben mich immer beschäftigt. Wenn man selber noch Kind ist, ist die größte Angst die, verloren zu gehen. Und wenn man dann selber Kinder hat, ist es die Angst, das Kind zu verlieren. Es gibt schreckliche Dinge, die einem zustoßen, die einen aber auch zusammenbringen. Aber der Verlust des Kindes ist etwas, das kriegen die Eltern kaum noch zusammen hin. Ob das Kind entführt worden ist oder einen Unfall gehabt hat, man muss eine Schulderzählung finden, um Ordnung in diese Verlustwelt zu bekommen, und die richtet sich mit der Zeit fast immer gegen den anderen oder gegen sich selbst. Und dadurch fliegt die Ehe auseinander. Aber in unserem Film wird überhaupt nichts von Jelena, dem verlorenen Kind, erzählt. Es wird auch nicht nach ihr gefragt. Es gibt nur Zeichen.
Für uns ist die Konstallation in dem Moment klar, als Betty Laura versehentlich Jelena nennt.
Die Laura weiß, dass hier etwas nicht stimmt. Sie weiß, jemand muss mal in diesem Zimmer da gewohnt haben, jemand hat mal dieses Klavier gespielt, jemand ist mal auf diesem Fahrrad gefahren. Aber jetzt ist es für sie. Die Schuhe passen ihr, das T-Shirt gefällt ihr, sogar die Bemutterung gefällt ihr. Das tut ihr gut, auch wenn es falsch ist. Aber es geht in dem Film nicht darum, irgendein Geheimnis hinter der Geschichte aufzudecken. Der Film interessiert sich dafür, wie diese Menschen mit ihren Traumata, Verlusten und ihren Lebenswünschen zurechtkommen. Im eine Übereinkunft: „Ich weiß, dass ich hier für dich die Tochter spiele. Lass uns nicht drüber reden, lass uns die Zeit genießen, jede Sekunde.“ Und in diesem Moment schaut die Betty nicht mehr zu ihrer toten Tochter hin, sondern zur Prinzessin. Solche Momente, solche Blicke tauchen dann immer wieder auf im Film.
Wenn Laura für die Familie das Chopin-Stück auf dem Klavier spielt, ist es ein bisschen so, als würde sich eine Tür zu Jelena öffnen, als würde sich das Richtige gegenüber dem Falschen für einen Moment behaupten. Es ist ja Laura, die da spielt, zum ersten Mal seit langer Zeit.
Es war wichtig, wie die Paula diese Szene gespielt hat. Wie die Betty das sagt: „Kannst du für mich spielen?“, das ist ja horrormäßig, da läuft es einem ja kalt den Rücken runter. Und die Paula, die Laura, nimmt sich ein paar Sekunden Zeit, steht auf und sagt einfach: „Ja.“ Sie folgt nicht der Übergriffigkeit, sondern sie setzt sich darüber hinweg. Ich spiele jetzt. Ich mache es nicht dir zuliebe. Ich mache es für mich. Und in dem Moment hat sie etwas geschafft. Das korrespondiert im Grunde genommen mit der Szene am Schluss. Ich bin jetzt da, ich bin gerettet. Und die Eltern und der Bruder sehen nur ihren Rücken beim Spielen, und vielleicht sehen sie jemand anderen dort spielen, die verlorene Tochter oder Schwester.
Wir hatten die Szene beim Drehen lange laufen lassen, die Ergriffenheit der Familie, die Tränen. Aber am Schneidetisch haben wir entschieden, da viel früher rauszugehen. Das war wichtig, um der Szene die Möglichkeit zu geben, Nachbeben zu haben.
Es wirkt fast wie ein Abschied von Jelena.
Es ist etwas geschehen in diesem Moment. Aber das kann noch keiner benennen. Die Eltern gehen zusammen runter zum Fluss, Pflaumen pflücken, und der Sohn haut so schnell wie möglich ab. Sie haben gerade eben die tote Schwester, Tochter gesehen. Das ist, glaube ich, eine Loslösung, die hier geschehen ist, ohne dass die Laura das weiß. Die Laura holt sich einen Kaffee, setzt sich auf die Veranda und hat gute Laune. Der geht es richtig gut, sie konnte wieder Klavier spielen, das ist auch eine Befreiung. Und dann explodiert die Spülmaschine.
Auch wenn es im Film nicht gezeigt wird, spüren wir doch, wie sehr diese Familie, diese drei Menschen darum gekämpft haben und weiter kämpfen, nach der Katastrophe irgendwie beieinander zu bleiben.
Ich stelle mir beim Schreiben eigentlich immer vor, dass der Film der Traum einer der Protagonisten ist. Bei Phoenix hatte ich mir vorgestellt, dass die Nelly in Auschwitz ein Leben erträumt, in dem die Wunde, die die Shoah für immer reißt, gar nicht existiert, dass sie die verlorene Zeit zurückholen kann. Und hier hatte ich mir vorgestellt, dass eine junge Klavierstudentin ein Musikstück von Ravel spielt, Miroirs No. 3, und dabei auf eine imaginäre Reise geht, zu einer Familie, wo sie glücklich sein könnte. Der Untertitel des Stücks heißt „Eine Barke auf dem Ozean“. Wenn man diese Musik hört, begreift man, es gibt Stürme, die Barke könnte untergehen. Und diese Familie hier ist mit dem Tod der Tochter untergegangen. Jetzt treiben Wrackteile auf der Oberfläche des Ozeans, und diese drei Überlebenden versuchen, aus den Trümmerteilen ein Rettungsfloß zu bauen. Das ist die Geschichte des Films. Die drei Schiffbrüchigen schwimmen aufeinander zu und versuchen, die Teile zu einem Rettungsfloß zu verbinden und irgendwo an Land zu kommen. Das ist die Metapher.
Und eine vierte Schiffbrüchige, die von ganz woanders her angeschwemmt kommt, baut auch mit an diesem Floß.
Ja, es werden alle Teile gebraucht für dieses Floß, mit dem sie überleben, mit dem sie irgendwann an Land kommen. Vielleicht ist es so, dass alle Kinofilme im Grunde davon erzählen, wie Menschen aus Trümmerteilen versuchen, sich eine Überlebenssituation zu bauen. Das Kino handelt eigentlich davon, wie man überleben kann. Nicht, wie wir leben, sondern wie wir überleben.
Sie haben mit allen Ihren Hauptdarstellerinnen und Hauptdarstellern schon mehrfach gearbeitet. Wie wichtig ist Ihnen diese Kontinuität?
Ich mag das gerne, dass man Ensembles hat und mit denen etwas dreht und dann schon über das nächste Projekt nachdenkt. Als wir bei Roter Himmel über Miroirs No. 3 gesprochen haben, konnte ich das nur erzählen, weil wir aus einem Arbeitszusammenhang und einem Vertrauenszusammenhang heraus etwas entwickeln konnten. Ich finde zum Beispiel, dass der Richard hier und der Helmut, den Matthias Brandt in Roter Himmel spielt, etwas miteinander zu tun haben, auch die Laura und die Nadja und die Figuren von Enno Trebs in den letzten beiden Filmen haben etwas miteinander zu tun. Die Schauspieler spielen nicht alles, was es so auf dieser Welt gibt, sondern sie spielen etwas, was man auch aus der vorherigen Figur heraus entwickelt. Die Barbara Auer hat in Die Innere Sicherheit eine Mutter gespielt, die sehr streng sein musste, um dieses Leben im Untergrund zu organisieren. Sie musste ihrer Tochter im Grunde das Leben, die Welt, die Schule ersetzen, was dann zur Katastrophe führt. Aus dieser Figur hat Barbara etwas in unseren Film jetzt mit hinüber genommen. Dass ich mit den Schauspielern gerne weiterarbeite, hat nicht nur damit zu tun, dass die alle großartig sind, sondern auch mit dem Reichtum, den sie in den früheren Filmen gewonnen haben und den sie für die neuen Geschichten gebrauchen können.
Das erträumte Leben ist auf bestimmte Weise vielleicht ein Thema in allen ihren Filmen. In Yella waren es am Ende eher die Zuschauer, die aus diesem erträumten Leben nicht wegwollten, hier sind es, ähnlich wie die Mutter in Gespenster, die Protagonisten.
Wir hatten sogar ein anderes Ende, mit dem wir in diesem erträumten Leben geblieben wären: Die Familie sitzt auf der Veranda und sieht die Laura, die zurückkommt und das Gartentor öffnet. Aber das war falsch. Das hatte mit meinem Hamoniebedürfnis zu tun und nicht mit dem Film. Als wir Miroirs gedreht haben, war der Krieg gegen die Ukraine im dritten Jahr, der Wahlsieg von Trump zeichnete sich ab, fast überall auf der Welt machten sich faschistoide Tendenzen breit. Und ich hatte den Wunsch, so lange bei dieser Familie da draußen in der Uckermark zu sein, in diesem schönen Haus, mit diesen tollen Menschen, bis die Welt wieder in Ordnung ist. Und aus diesem Harmoniebedürfnis kam der Gedanke, die Laura kommt am Ende zurück und da sitzen die jetzt auf der Veranda und essen Pflaumenkuchen. Wie in den Märchen. Aber es war klar, dass das nicht stimmt, dass das nicht funktioniert. Wir brauchen kein Märchen am Ende, sondern ein Erkennen. Damit diese drei als Familie und vor allem als Individuen weiterleben können, damit die Laura in ihr eigenes Leben treten kann. Das Rettungsfloß setzt die Schiffbrüchigen an verschiedenen Stellen an Land. Und die müssen sich dann kein Leben mehr erträumen. Diese vier Leute hatten keinen Zugang mehr zur Welt, sie hatten kein Interesse mehr daran, wie sich das anfühlt, zu riechen, zu schmecken, zu sehen. Und das haben sie geschafft, als Gruppe, dass sie untereinander ihre Sinne wieder erwecken. Die haben gelernt, wieder Menschen zu sein.
Sie können wieder auseinandergehen.
Die Betty, der Richard und der Max haben im Konzertsaal gesehen, dass diejenige, die in ihrer Obhut war, ohne sie klarkommt. Das ist vielleicht schmerzhaft, aber es ist auch das ganze Ziel. Sie können wieder zu dritt auf dieser Veranda sitzen und zusammen sein. Deswegen finde ich den Film so trostreich am Ende, wenn ich die Laura in ihrem Apartment sehe, wie sie so für sich guckt, nicht zu uns, sondern für sich, und dann huscht ein ganz leises Lächeln über ihr Gesicht ... Das macht die Paula Beer ganz toll. Die Laura weiß, dass diese ganze Zeit ihre Rettung gewesen ist. Und deshalb ist es schön. Auch wenn alles eine Lüge war. Es ist schön.
Foto:
© Verleih
Info:
Paula Beer (Laura)
Barbara Auer (Betty)
Matthias Brandt (Richard)
Enno Trebs (Max)
Buch und Regie: Christian Petzold