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Kategorie: Film & Fernsehen
zwei sindSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 25. September 2025, Teil 6

Redaktion

Lateinamerika (Weltexpresso) – Was hat Sie zu DAS TIEFSTE BLAU inspiriert? Und wie würden Sie den Film selbst beschreiben, welches Genre hat er?

Für mich ist DAS TIEFSTE BLAU ein Film über das Recht zu träumen. Im Mittelpunkt steht eine ältere Protagonistin, eine Frau, die sich weigert, das Schicksal zu akzeptieren, das jemand anderes für sie vorgesehen hat, in diesem Fall der Staat. Mir schwebte eine Ode an die Freiheit vor, und ich wollte eine rebellische Siebzigjährige zeigen, die sich gegen die arrangierte Isolation in einer Seniorenkolonie zur Wehr setzt, die signalisiert, dass es nie zu spät ist, eine neue Bedeutung im Leben zu finden.

Es ist ungewöhnlich, ältere Hauptfiguren im Kino zu sehen, nicht zuletzt in Dystopien, Fantasien und allem, was einem Coming-of-Age-Drama ähneln könnte. Genrekonventionen im Kino sind mächtige Werkzeuge für das Erzählen von Geschichten, aber sie können für Geschichtenerzähler auch einengend sein, ihnen die Luft zum Atmen nehmen. Oft kommt es mir so vor, als sei die Rebellion gegen das System etwas, das den Jungen vorbehalten ist. Als ob die Suche nach Reife, Verständnis und einem eigenen Platz in der Welt ein Übergangsritus wäre, der nur für Schüler oder Menschen, die gerade erst erwachsen geworden sind, vorbehalten ist.

Ich hoffe, dass DAS TIEFSTE BLAU ein Film ist, der auf unterhaltsame Weise mit Genres spielt. Anstatt mich an ein einziges Genre zu halten, wollte ich ein Zusammenspiel zwischen dem Lyrischen und dem Verspielten in einer Art post-tropischem Delirium schaffen, das einige dieser starren Grenzen aufbricht. 

Das spielerische Ausloten von Genres ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit, das Erforschen möglicher Risse und des Potenzials, das sie innerhalb der narrativen Tradition offenbaren. Ich habe eine besondere Vorliebe für Filme, die fantastische Ideen als Grundlage nehmen und daraus die Möglichkeit einer Realität formen, die gleichzeitig aber durchaus real sein könnten.

Es muss kein fliegendes Auto auf der Leinwand zu sehen sein, um eine Verschiebung von Raum und Zeit zu vermitteln. Kultureller Wandel oder Verhaltensänderungen können einer Dystopie sogar noch radikaler Ausdruck verleihen als eine Technologie oder ein Gadget. Die Herausforderung bestand darin, sich eine mögliche Welt auszudenken, die ungewöhnlich und einzigartig für die Welt des Films ist – angesiedelt weder in Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft.

Hier wollte ich auch die Vitalität des alternden Körpers zeigen. Der Film spielt in einer von Produktivität und Effizienz besessenen Gesellschaft, in der ältere Bürger:innen aufgefordert werden, sich ab einem bestimmten Alter aus der Gemeinschaft zurückzuziehen. Für mich ist es eine fast dystopische, aber gleichzeitig inspirierende Fabel, die von Tereza erzählt, eine 77-jährige Frau, deren Zeit zum „Weggehen” gekommen ist.

Tereza lehnt diese „soziale Euthanasie“ ab und begibt sich auf eine Reise, auf die Suche nach Freiheit und einem lang gehegten Traum. Ihre Reise beginnt erst richtig, als sie auf ihrer Flucht in ein Boot steigt, das sie tief in den Amazonas und tief in ihre eigene Seele führt.



Warum wollten Sie eine Geschichte über ältere Menschen erzählen?

Ich bin in einem Haus mit vielen Menschen aufgewachsen, meine Großeltern waren immer Teil meines Lebens. Meine Großmutter hat mit 80 Jahren, nach dem Tod meines Großvaters, das Malen gelernt. Solche Erlebnisse haben meine Sicht auf das Älterwerden geformt und verändert. Sie haben mir gezeigt, dass ältere Menschen Hauptdarsteller:innen ihrer eigenen Selbstfindung werden und bedeutende, sogar beeindruckende oder erstaunliche Veränderungen erleben können.

Die Erzählungen, die wir meistens sehen, konzentrieren sich auf ältere Charaktere, die in einer Welt zurückgelassen werden, die sich ohne sie weiterdreht. Sie stellen das Altern als eine Zeit schmerzhafter Isolation oder des körperlichen Verfalls dar. Oft ist die Vergangenheit die treibende Kraft in diesen Geschichten. Sie ist es, die die zentralen Figuren dazu bewegt, ein letztes Ziel zu erreichen, dass es ihnen erlaubt, vielleicht in Frieden zu sterben. Diese Geschichten sind oft von einer unterschwelligen Nostalgie und Unausweichlichkeit geprägt, in der der Tod unbewusst die Spannung der Erzählung bestimmt.

In meinem Film wollte ich eine andere Perspektive ausloten. Mein Ansatz sieht eine Reise vor, mit Elementen aus Abenteuer und Fantasy, eine neue Annäherung nach dem Wunsch nach Freiheit. Es ist ein Boat Movie, wenn man so will, über das Älterwerden und Träumen, in dem ältere Frauen im Mittelpunkt stehen.



Warum haben Sie die Handlung im Amazonas angesiedelt und dort auch gedreht?

Ich kannte den Amazonas bereits aus einem Projekt zur Ausbildung indigener Filmemacher, „Video in the Villages”, an dem ich als Lehrer teilgenommen hatte, als ich jünger war. Unlängst hatte ich außerdem die Gelegenheit, ein Filmfestival in Goa, Indien, zu besuchen, wo ich ein riesiges Casino-Boot mitten auf einem großen Fluss sah. Das Drehbuch für diesen Film hatte ich bereits in Arbeit, und das gab mir die Eingebung, dass der Amazonas ein ganz besonderer Ort wäre, um einen einzigartigen „Zustand der Welt“ zu inszenieren, der die Erzählung des Films beheimaten und vertiefen könnte. Es gibt eine wichtige Szene, in der Tereza ihre Zukunft aufs Spiel setzt und alles, was sie hat, und sogar das, was sie nicht hat, auf diesem schwimmenden Casino verspielt. Ich wollte, dass der Amazonas zu einer eigenständigen Figur wird. Bei der Überarbeitung des Drehbuchs nach meiner Reise nahm diese Idee Form an.


Es ist merkwürdig, dass der Amazonas, wie er in Kino und Fernsehen außerhalb Brasiliens gezeigt wird, immer noch so idealisiert ist. Ich wollte diese romantische, verzerrte Darstellung, die wir oft sehen, wenn es um Naturschutz geht, hinterfragen. Der Film entführt uns in einen Amazonas, der gleichzeitig magisch und industriell, fast surreal und zutiefst politisch ist.

Der Film stellt sich ein politisches System vor, das gekennzeichnet ist von tropischem Populismus, Entwicklungsfaschismus. Hier erlebt man den Amazonas nicht in dieser idealisierten Form als „Lunge der Welt“, sondern als Region, in der die entscheidenden Widersprüche des Planeten besonders auffällig zu Tage treten. Ich sehe den Amazonas als Figur mit einem eigenen Leben, voller Komplexität.


 
DAS TIEFSTE BLAU ist auch nicht Ihr erster Film, in dem Tiere eine wichtige, fastmythische Rolle spielen.


Ich stand vor der Herausforderung, die Idealisierung der amazonischen Fauna neu zu definieren. So wird das Publikum mit einer ungewöhnlichen industriellen Fleischverarbeitungsfabrik für Alligatorfleisch und einer Wettbude mit Fischkampfarenen konfrontiert. Die Prämisse war zu betonen, wie das Großkapital und Popkultur sich die Bildsprache der Region, in der der Film spielt, angeeignet haben.

Der Film weist auch einer verzauberten Schnecke einen besonderen Platz zu. Sie sondert einen blauen Schleim mit magischen Kräften ab, um neue Wege zu öffnen und die Zukunft zu sehen. Die Schnecke symbolisiert einen poetischen Widerspruch, der auch mit dem Alter in Verbindung gebracht werden kann: langsam in der Bewegung, aber unendlich in ihren Möglichkeiten. Die blaue Schleimschnecke hinterlässt überall, wo sie hingeht, eine blaue Spur, als würde sie den Samen für eine neue Zukunft pflanzen.


Wie wählt man die Besetzung für einen Film wie diesen aus?

DENISE WEINBERG ist eine hervorragende Schauspielerin mit einem ausgezeichneten Ruf im brasilianischen Theater und einer wachsenden Präsenz im Kino. Am Filmset überraschte sie mich mit ihrer tiefen und radikalen Fähigkeit, den Text zu studieren und sich die Figur zu eigen zu machen. Es gab keinen einzigen Drehtag, an dem Denise nicht am Set war – sie ist in jeder Szene des Films zu sehen. Selbst wenn sie am Set nur auf einem kleinen Monitor zu sehen war, war ihre Darstellung so kraftvoll, dass sie das Team beim Dreh emotional zutiefst berührte, bisweilen sogar mehrfach, wenn eine Szene wiederholt werden musste.

RODRIGO SANTORO ist ein Schauspieler, den ich seit meiner Jugend bewundere. Ich war 16, als ich ihn auf der Bühne sehen konnte. Da stellte er einen neuen Film vor, der in meiner Stadt Premiere hatte. Das war im Jahr 2000. Ich war tief beeindruckt davon, wie verschieden er auf der Bühne und auf der Leinwand war. Der Wunsch, einen Film mit ihm zu drehen, verschmilzt, glaube ich, mit meinem Wunsch, Filme zu machen. Und nun hatten wir endlich diese Gelegenheit.

Als unsere Hauptfigur Tereza daran gehindert wird, mit Passagierschiffen zu reisen, sucht sie Cadu, Rodrigo Santoros Figur, auf, um ihn für eine Fahrt auf einem Boot zu bezahlen, das dubiose Waren transportiert. Cadu ist ein reiselustiger Mann mit gebrochenem Herzen. Die Idee war, einen Mann zu zeigen, der unter der Trennung von seiner Geliebten leidet, das Gegenteil von dem, was Filme normalerweise mit dieser Art von Figur verbinden: nämlich die maskuline Freiheit eines Reisenden, der fernab von zu Hause ist und keinen Zwängen unterliegt. Aber Cadu ist anders. Das Boot ist sein Gefängnis. Er trauert zutiefst und muss übernatürliche Kräfte einsetzen, um dieses Leben zu verlassen und sich seinen Herzenswunsch zu erfüllen.

MIRIAM SOCARRÁS ist eine Naturgewalt. Die Kostümproben für ihre Figur Roberta waren interessant. Sie ist so schillernd, dass wir uns auf immer riskantere Entscheidungen einließen, wie eine irisierende violette Jacke und eine rote Militärmütze. Ihre Figur landet in einem kosmopolitischen Amazonasgebiet, sie spricht ein einzigartiges Portuñol. Sie steuert ihr Boot, verkauft Bibeln und verspricht der Protagonistin Tereza ein neues Leben. Ich finde, dass die Begegnung dieser beiden Schauspielerinnen – Denise Weinberg und Mirian Socarrás – etwas Magisches hat.

ADANILO spielt die Rolle des Ludemir, eines Mannes, der in ewiger Erwartung der versprochenen Entwicklung am Flussufer lebt. Adanilo spiegelt einen großzügigen und aufschlussreichen Ansatz wider, wie man den „amazonischen Flusskörper” darstellen kann. Er ist ein Schauspieler aus der Amazonasregion und spielt neben mehr als 20 anderen amazonischen Schauspieler:innen, die in dem Film mitwirken. Er verleiht DAS TIEFSTE
BLAU die Poesie und Einzigartigkeit der lokalen Realität und bereichert den Film zusätzlich mit den kreativen und politischen Themen des amazonischen Kinos.
 

Die Geschichte ist in einer dystopischen Welt angesiedelt, die ihre Hauptfigur aktiv bedroht. Und doch haben Sie es geschafft, einen hoffnungsvollen und befreienden Film zu drehen.

Ich denke, DAS TIEFSTE BLAU thematisiert indirekt viele ernste und brisante aktuelle Probleme, insbesondere im Zusammenhang mit der Vertreibung von Menschen, Gruppen oder Ethnien aus ihrer Heimat im Namen eines staatlichen Projekts.

Es geht um ältere Menschen, die aus der Gesellschaft entfernt werden, aber es spricht auch viele andere Bevölkerungsgruppen an. Von Gentrifizierung über die Vertreibung indigener Gemeinschaften von ihrem Land zum Zwecke wirtschaftlicher Ausbeutung bis hin zu Kriegen um Territorium, während reiche Länder von Waffenverkäufen profitieren, und der Behandlung von Flüchtlingen und Einwanderern, die aufgrund von Konflikten oder Unterdrückung gezwungen sind, ihre Länder zu verlassen.

Ich hoffe, dass der Film diese Realitäten indirekt beleuchtet und zum Nachdenken anregt, wie individuell sich Widerstand und unsere Suche nach Freiheit äußern kann.

Vor allem wollte ich aber einen Film machen, der sich leidenschaftlich mit der Gegenwart auseinandersetzt, der davon erzählt, wie vielfältig unsere Lust am Leben sein kann. Ein Film über eine Frau – eine Mutter, Großmutter, älter, aber dennoch nicht auf eine feste Identität festgelegt. Tereza verkörpert den Wunsch, diese Reise zu erleben, die Bereitschaft, neue Identitäten auszuprobieren und neue Erfahrungen zu machen, auf einzigartige, originelle und undogmatische Weise.

Foto:
© Verleih

Info:
Stab
Regie. Gabriel Mascaro
Buch. ◦Gabriel Mascaro, Tibério Azul
Kamera. Guillermo Garza

Besetzung
Denise Weinberg( Tereza)
Rodrigo Santoro(. Cadu)
Miriam Socarrás (Roberta)
Adanilo Ludemir)